Festschrift zum 500-jährigen Jubiläum der Schule, Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2020, 544 Seiten, ISBN 978-3-95542-379-7, 25,00 €

Die 500-jährige Geschichte des heutigen Frankfurter Lessing-Gymnasiums beginnt mit dem Erasmus-Schüler Wilhelm Nesen, der sich in einer Diensturkunde vom 14.09.1520 gegenüber den Ratsherren der Stadt am Main verpflichtete, auf die Dauer von drei Jahren „ihre und gemeiner Bürgerschaft Kinder” Latein zu lehren und alle Tage eine Stunde für „ehrbare Hörer” öffentlich zu lesen. Die Lateinschule erlangt bald hohes Ansehen als humanistische Bildungsstätte. Martin Luther besucht die Ratsschule auf der Durchreise nach Worms. Jacobus Micyllus, ein Schüler Philipp Melanchthons, wird Rektor. Seit etwa 1600 wird die Ratsschule als Gymnasium bezeichnet. Der Komponist Georg Philipp Telemann wirkt als Kantor (1712–1721) am Gymnasium. 1765 gibt es den Erlass einer „Verbesserten Ordnung des Gymnasiums” auf der Basis der alten Schulordnung von 1564. Ziel des Unterrichts ist u. a. das Erlernen der lateinischen, griechischen und hebräischen Sprache; die Schüler der beiden oberen Klassen „sollen anders nicht als Lateinisch reden”. Johann Wolfgang Goethe, der unweit der Schule zu Hause ist, erhält vom Rektor des Gymnasiums Privatunterricht in Hebräisch. Kurz nach 1800 – die klassische Gelehrtenschule steht in Konkurrenz zu Privatunterricht und außerstädtischen Bildungseinrichtungen – öffnet sich die Schule für den Unterricht in Französisch und Englisch, zunehmend auch für den Unterricht in den Realien, also in Mathematik und Physik. Mitte des Jahrhunderts wird begabten Sekundanern und Primanern u. a. der Besuch von Vorlesungen und Übungen der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft und des Physikalischen Vereins ermöglicht. Unter Tycho Mommsen (dem Bruder von Theodor Mommsen) als Direktor hält die angesehene Gelehrtenschule Verbindungen zu den deutschen Universitäten und fördert das wissenschaftliche Arbeiten in den geistes- und naturwissenschaftlichen Fächern. Immer wieder gibt es freilich auch Rückschläge, die Schülerzahlen gehen dann stark zurück, die pädagogische Qualität des Unterrichts und der Ruf der Schule verfallen, die Einrichtung erstarrt. Nach Zeiten des Niedergangs ermöglichen Reformen, neue Schulordnungen, Initiativen einzelner Rektoren und eine Erweiterung des Pflicht- und freiwilligen Unterrichts immer wieder einen Aufschwung der Schule, die Schülerzahlen steigen Ende des 19. Jahrhunderts stark an. 1888 wird die Schule geteilt, das heutige Heinrich-von-Gagern-Gymnasium wird gegründet. Das städtische Gymnasium erhält 1902 ein neues Gebäude, zum wiederholten Mal u.a. nach 1529, 1542, 1839, 1876 sowie 1946, 1952 und zuletzt 1968. „In diesen Mauern, diesen Hallen ... Die Gebäude der Schule im Wandel der Zeiten” nimmt Carolin Ritter die Schulbauten stellvertretend für die Institution Schule in den Blick (45-67); Matthias Lutz-Bachmann, widmet seinen Beitrag ihrem Selbstverständnis „Humanismus. Facetten eines Bildungs- und Wissenschaftskonzepts” (34-44).
In drei großen Abschnitten beschäftigen sich die über drei Dutzend Artikel mit der bewegten und lesenswerten Geschichte der Schule, zunächst mit dem humanistischen Gründerkreis der Lateinschule (1520 bis um 1600), fünf Beiträge, 69-146, sodann mit dem Gymnasium (um 1600 bis 1897), sechs Beiträge, 147–257, und schließlich mit dem Lessing-Gymnasium (1897 bis heute), dreiundzwanzig Beiträge, 261–519. Die Festschrift ist sehr sorgfältig konzipiert und beschreibt nachvollziehbar und anregend die Geschichte des Bildungswesens von ihren Anfängen als städtische Lateinschule bis in die Gegenwart als anspruchsvolles und pädagogisch ambitioniertes Gymnasium.
Die Herausgeber des prächtigen Jubiläumsbandes, erschienen im Frankfurter Societäts-Verlag, sind Bernhard Mieles, Carolin Ritter und Christoph Wolf. Ersterer leitet seit Frühjahr 2016 als Direktor das Lessing-Gymnasium. Als Lehrer für Deutsch und Geschichte, in der Schulleitung und Lehrerbildung war er an einigen unterschiedlichen Schulen in Darmstadt, Frankfurt und Rom tätig. Dr. Carolin Ritter unterrichtet Latein und Englisch am Lessing-Gymnasium. Sie publizierte zur lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit (z.B. bei Reclam das Bändchen De miseriis paedagogorum / Über die Leiden der Lehrer von Philipp Melanchthon) und bereitet eine zweisprachige Ausgabe des Fabeldichters Phaedrus vor. Dr. Christoph Wolf ist Rechtsanwalt und Partner bei einer internationalen Anwaltskanzlei und arbeitet vor allem im Kapitalmarktrecht. Er ist Vorsitzender des Bundes der Freunde des Lessing-Gymnasiums.
Die Jahrzehnte der Lateinschule ab 1520 können sich mit großen Namen schmücken, wie die einzelnen Autoren der fünf Beiträge zu dieser Zeit berichten. Michael Matthäus, „'Nach eynem Redelichen, geschickten, gelerten vnd von mores geschickten gesellen zu trachten ...' Die Gründung der Frankfurter Lateinschule im Jahr 1520”, 71–89. Die Finanzierung solch eines Mannes war offensichtlich schon vor 500 Jahren ein Problem: „Dieser sollte wie ein Söldner entlohnt und dafür ein Söldner eingespart werden” (74) – kostenneutral quasi; der Kandidat Wilhelm Nesen bestand auf einem vorzeitigungen Kündigungsrecht bei Aussicht auf eine bessere Anstellung und erklärte, er wolle Griechisch nur gegen eine bessere Belohnung unterrichten (77). Davon ist dann nicht mehr die Rede. Tragischerweise ertrank der junge Wilhelm Nesen am 6. Juli 1524 nahe Wittenberg in der Elbe.
Eduard Bornemann als Lateinlehrer der Sexta am Lessing-Gymnasium im Jahre 1933 (Festschrift S. 389).
Sein Nachfolger Micyllus greift dieses schlimme Schicksal in einem Epicedion (105) auf, einem Trauergedicht, vom dem neben anderen schönen Textbeispielen (etwa über das Schreibrohr, das spricht) Carolin Ritter berichtet: „Lateinische Gedichte im Zeichen humanistischer Freundschaft. Der Rektor Wilhelm Nesen und seine Zeitgenossen Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Helius Eobanus Hessus und Jakob Micyllus”, 90–108. – Auf die Frankfurter Lateinschule wirken Humanismus und Reformation prägend ein; Melanchthon etwa unterstreicht die Bedeutung der alten Sprachen für den Wiederaufbau der humanistischen Wissenschaften, deshalb treibt er die Reform der Schulen und Universitäten voran; dazu: Hendrik Eden, „Melanchthon als praeceptor Germaniae und seine Beziehungen zu Frankfurt”, 109–123. – Ein früher schulischer Schwerpunkt der Schule ist die Musik. Dazu Sabine Mittenhuber, „Singen ist das Fundament zur Musik in allen Dingen (Georg Philipp Telemann, 1718). Zur Chortradition und Chorarbeit am Lessing-Gymnasium”, 124–138. – Auf einen lange gepflegten Brauch, am Ende eines Schuljahres diejenigen, die sich sowohl durch ihre Leistungen als auch durch ihr Engagement innerhalb einer Klasse ausgezeichnet hatten, durch Prämien bei der Progressionsfeier auszuzeichnen, verweist Manfred Capellmann, „Das Praemium virtutis et diligentiae”, 139–146; der Rektor Johannes Cnipius Andronicus, der von 1550 bis 1562 die Lateinschule leitete, habe als erster solche Prä-mien, das sind Preismünzen, die eigens für Schüler des Gymnasiums geprägt wurden, ausgegeben, im 17. und im 18. und im 19. Jahrhundert immer wieder auch einigermaßen inflationär. Die Eins beim Abitur heute entsprach quasi dem Praemium virtutis et diligentiae, das um 1850 etwa zwei Drittel der gesamten Schülerzahl des Gymnasiums (142f.) bekam.
Den zweiten Teil der wissenschaftlichen Recherchen über das Gymnasium von 1600 bis 1897 leitet Veronika Brandis ein mit ihrem Beitrag „'Wo man Augiens Stall bey wilder Jugend fegt'. Der Prorektor Johann Simon Frank von Lichtenstein im Spiegel des Nachrufs seines Kollegen Johann Jacob Schudt (1708/09)” und beleuchtet darin die Funktion von Memorialschriften der Frühen Neuzeit (S.149–169). Weitere Rektoren der Goethezeit werden von Robert Seidel und Paul Kastner in den Blick genommen und es wird dabei auch darüber reflektiert „Labores juveniles oder: Wie lernte Goethe Latein?” (189–197). – Die Jahre von 1790 bis 1820 bringen starke Umbrüche mit den Frankfurter Schulreformen, das Gymnasium soll nicht nur Gelehrtenschule, sondern auch Bürgerschule und „die der wissenschaftlich zu unterrichtenden Nichtgelehrten aus den gebildeten Ständen” (199) sein. (vg. Tobias Picard,
„' ... In demselben Institut eine höhere Real- und eine gelehrte Schule zu vereinigen suchen.' Das städtische Gymnasium und die Frankfurter Schulreformen 1790–1820” (199–228). Am 18. April 1803 wurde eine „Musteranstalt zur Erneuerung örtlicher Elementarschulen” (204) eröffnet und vorzugsweise Lehrer eingestellt, die ein pädagogisches Seminar besucht hatten. Das Gymnasium erhielt einen neuen Lehrplan. „In Latein ging es in den ersten drei Jahren um die Erlernung der Grammatik, mit dem Ziel leichter Übersetzungen und selbstverfertigter kleiner Texte; in der vierten Klasse setzte die Lektüre ein, die ab der fünften Klasse mit der Erfassung sprachlicher Schönheiten verbunden wurde, so dass die Schüler 'mit dem Geist des Altertums so vertraut wurden, daß er in ihre Art zu fühlen und zu denken, zu reden und zu schreiben übergeht'” (221). Dieselbe stufenartige Steigerung war beim Griechischunterricht vorgesehen. Von den wöchentlich etwa 30 Stunden entfielen mehr als die Hälfte auf Latein und Griechisch, dahinter stand die Idee der bildenden Kraft der Sprache, die nicht nur als Verständigungsmittel angesehen wurde. – Weitere Artikel beschäftigen sich mit bedeutenden Lehrern und Schülern des Gymnasiums wie dem Entzifferer der Keilschrift Georg Friedrich Grotefend, dem Frankfurter Mundartdichter Friedrich Stoltze, dem Astronomen Karl Schwarzschild oder Hitlers 'erstem Feind' Konrad Heiden.
Das Barfüßerkloster im Plan von Merian, 1628
Mehr als die Hälfte des opulenten Buches mit der Schulgeschichte von 500 Jahren ist persönlichen Rückblicken auf die Schulzeit der letzten Jahrzehnte gewidmet. Und diese Artikel sind ebenso spannend wie einfühlsam geschrieben, etwa derjenige Beitrag von Manfred Capellmann, „Ernst Majer-Leonhard, Direktor des Lessing-Gymnasiums 1926–1933” (311–338). Er gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten dieser Zeit in Frankfurt, geprägt durch die Jugendbewegung und die Reformpädagogik. Als jüngster der Studienräte seiner Schule wird er zum Schulleiter gewählt; die Schule befand sich damals in einer ihre Existenz bedrohenden Lage: Ostern 1925 hatten sich nur 12 Schüler für die Sexta angemeldet. Mit seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit und einer Fülle von inspirierenden Maßnahmen stiegen die Anmeldungen 1930 auf 84, „davon durfte er aber 'nur' 60 in eine einzige Sexta aufnehmen” (322). Dem Ansturm des Nazismus konnte er sich nicht lange entgegenstemmen, am 30. September 1933 verliert er sein Amt und wird versetzt, 1937 aus dem Schuldienst entlassen, wenige Tage später nimmt sich seine Frau aus Verzweiflung das Leben. 1945 wird er rehabilitiert und leitete das heutige Taunusgymnasium in Königstein bis zu seiner Pensionierung 1957; am dortigen Klärchenweg erinnert ein Standbild (Bronzestatue von Eike Stielow, 1996) an den begeisternden Pädagogen „die (Latein-)Bücher im festen Griff” (336) – „Heute ist Majer-Leonhard im Lessing-Gymnasium so gut wie vergessen. Es war an der Zeit, wieder an ihn zu erinnern” (337). Das ist seinem Fachkollegen Manfred Capellmann großartig gelungen.
Lessing-Gymnasium Frankfurt/M. Der Südhof nach dem Umbau, 2014
Der Erinnerung an jüdische Schüler und Lehrer sind mehrere Beiträge gewidmet, so schreiben Mareike Kuntz und Moritz Nelissen über „Otto Frank. Absolvent des Lessing-Gymnasiums 1908, Vater von Anne Frank” 351–358, Manfred Capellmann, „'Wenn keine Stimme sich für uns erhebt, so mögen die Steine dieser Stadt für uns zeugen' – Erinnerung an jüdische Schüler und Lehrer des städtischen und des Lessing-Gymnasiums bis 1938”, 359–370, Michael Kern, „Carl-Heinrich von Stülpnagel und Konrad Heiden. Zwei Wege des Widerstands”, 371–387. – Heute machen die Mädchen die Mehrheit in der gymnasialen Schülerschaft aus; wie steinig der Weg zur Koedukation war, schildern Hannah und Christoph Wolf mit vielen Details: „'Wir haben keineswegs die Absicht, zum Lessing-Gymnasium Mädchen zuzulassen!' – Mädchen und Lehrerinnen am Lessing-Gymnasium”, 339–350. Die zweite Lehrerin überhaupt, die als Referendarin am Lessing-Gymnasium unterrichtete, war übrigens die spätere Berliner Professorin Dr. Karin Alt (348). Sie hat dort sicherlich bei Eduard Bornemann hospitiert, dem namhaften Didaktiker und begnadeten Lehrer, den Heike Bottler vorstellt und fachlich würdigt: „Die Didaktik des Eduard Bornemann (14.06.1894–3.05.1976) oder das Ende der großen Erzählungen”, 388–403. Über ihn berichtet auch Gerhard Bünger, in: „Lessing-Generationen. Das Lessing-Gymnasium aus der Sicht einer Familie, 470–482: „In der Unterprima bekam ich Herrn Prof. Dr. Eduard Bornemann als Klassenlehrer, der als Honorarprofessor an der Frankfurter Universität ein begnadeter Lehrer der alten Sprachen war und somit auch die Ilias und die Odyssee aus dem Kopf rezitieren konnte. Ich habe ihn als genialen Lehrer in Erinnerung, als Menschenfreund, bei dem der Unterricht immer Spaß gemacht hat. Erfreulicherweise kündigte er sein Ankommen immer mit Rascheln seines großen Schlüsselbundes an. Bornemann wurde sogar als Direktor vorgeschlagen, was er aber mit der Begründung ablehnte, er wolle kein Verwaltungsbeamter werden”, 471.
Zu nennen wären in diesem Opus magnum, in dem viel und jahrelange harte Arbeit steckt (vgl. die produktiven Tage der Schulgeschichte, über die im Jahresbericht 2016, 52–82 mit einem langen Katalog von Themen, Projekten und Ergebnissen berichtet wird), noch andere schulische Arbeitsfelder und Themen wie Konzerte, Literatur, Theater, Reisen: mit Eva Demski im Gespräch, Jörg Fausers Abituraufsatz, Martin Mosebach über Literatur und Deutschunterricht, 50 Jahre Skifreizeit in Niederau in Tirol, 65 Jahre Schulkonzerte und mehrfach Lessing, der Namensgeber, und seine Impulse für eine humanistische Bildung, für Gegenwart und Zukunft – Die Themen dieser Festschrift scheinen unerschöpflich – was auch der materialreiche Artikel bei Wikipedia dokumentiert. Das Lessing-Gymnasium zeigt sich höchst vital, kann voller Stolz und Dankbarkeit auf 500 Jahre humanistische Bildungstradition zurückblicken und das wechselvolle Erbe als Orientierungsmarke und weitere Verpflichtung im Sinne Lessings sehen:
„Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.”

Vom 18. September 2020 bis zum 21. März 2021 findet in der Berliner James-Simon-Galerie und anschließend vom 6. Mai bis zum 24. Oktober 2021 im LVR-Landes-Museum Bonn die Ausstellung Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme statt. Dazu erscheint ein gleichnamiger 672 Seiten starker Katalog bei wbg Theiss in Darmstadt, herausgegeben von Gabriele Uelsberg, seit 2005 Direktorin des LVR-Landesmuseums Bonn / Rheinisches Landesmuseum für Archäologie, Kunst- und Kulturgeschichte, und Matthias Wemhoff, seit 2008 Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin und zugleich Landesarchäologe von Berlin, mit 35 Beiträgen renommierter deutscher und internationaler Archäologen und Historiker, die auf dem aktuellen Stand der Forschung Einblicke in die Lebensrealität der Germanen bieten.
Beatus Rhenanus (1485–1547), deutscher Humanist. Stich von Johann Jacob Haid.
Die Autoren gehen zunächst dem Germanennamen nach, der sich durch Caesar etablierte und erst durch die deutschen Humanisten eine gewisse Popularität erfuhr. Anschließend werden die unterschiedlichen Lebensbereiche wie Landwirtschaft und Ernährung, Hausbau, Metallverarbeitung und das Kriegswesen ergründet. Erstmalig liegt hierbei der Fokus auf jenem Raum, der von den Römern seit dem 1. Jahrhundert nach Christus als Germania magna bezeichnet wurde und sich östlich des Rheins und nördlich der Donau erstreckte. Beim Namen Germanen handelt es sich nicht um die Eigenbezeichnung eines Volkes, sondern um eine Fremdbezeichnung. Caesar nutzte den Namen als politisches Instrument zur Grenzziehung zwischen Galliern (Kelten) und diversen Stämmen, sprich: Germanen rechts des Rheins, eine weder archäologisch noch sprachgeschichtlich nachweisbare Trennlinie. Seit Caesar wurde der Name intensiv als Sammelbezeichnung für jene Gemeinschaften genutzt, die östlich des Rhein und nördlich der Donau lebten; die so definierte Germania der Römischen Kaiserzeit existierte rund vier Jahrhunderte. Erst mit der Wiederentdeckung der ethnographischen Schrift Germania des römischen Autors Tacitus im Jahr 1453 (die Schrift hat nur in einem Exemplar die Zeit des Humanismus erreicht) erlangte der Germanenname erneut Popularität und zwar im Zuge des Versuchs, eine Geschichtsschreibung mit deutschen Vorzeichen zu entwickeln. Beatus Rhenanus (1485–1547) konstruierte eine Traditionslinie von seiner Zeit bis in die Antike. Intensive und ertragreiche archäologische Forschungen der letzten Jahrzehnte haben das Bild vom Leben in der Germania in vielen Punkten geschärft und verändert. Heiko Steuer bringt das in seinem Beitrag „Zehn Vorurteile antiker und moderner Historiker. Über die Verhältnisse in 'Germanien' in den ersten Jahrhunderten um und nach Christi Geburt” (43-65) auf den Punkt. Er will zeigen, dass die Beschreibungen der Situation zu Germanien und für die Germanen in den antiken Schriftquellem überwiegend auf reinen Vorurteilen beruhten; die Ergebnisse archäologischer Grabungen erlaubten es, ein ganz anderes Bild zu entwerfen. Heiko Steuer konstatiert, dass die realen Lebensverhältnisse in den ersten vier Jahrhunderten n. Chr. in Mittel- und Nordeuropa zahlreiche Nachrichten der antiken Schriftsteller widerlegten. Einfach zu erklären die Rede vom finsteren, undurchdringlichen Urwald in Germanien: „Das falsche Bild entstand für die antiken Historiker, weil es im Mittelmeergebiet fast gar keinen Wald gab” (48). Neue Erkenntnisse auch zum Bau von Wohnstallhäusern, zu den Arten von Befestigungen, zu Kultbauten und zum Straßenbau.
Andererseits ließen sich auch archäologisch zu belegende Gemeinsamkeiten im Raum Germanien erkennen. Das heiße jedoch nicht, dass es ein Gemeinschaftsbewusstsein der Bewohner in Germanien gegeben hätte, wenngleich die Bewohner Germaniens wussten, dass die römische Seite sie alle als Germanen bezeichnet hatte. Ein Aspekt für das Vorhandenseins eines gewissen Gemeinschaftsgefühls ist die Existenz der germanischen Sprache sowie die im späten 2. oder frühen 3. Jahrhundert nach römischem Vorbild erfundene eigenständige Runenschrift (61). Gemeinsamkeiten auch bei Bestattungsriten, bei Verzierungsmustern (Tierstile) auf Schmuck und Militärausrüstung und in der Goldschmiedekunst.
Die Ausstellung in der James-Simon-Galerie ist in sieben Kapitel gegliedert und gibt Einblicke in die Archäologie jener Gemeinschaften, die zwischen dem 1. Jahrhundert vor und dem 4. Jahrhundert nach Christus die Gebiete rechts des Rheins und nördlich der Donau besiedelten. Spektakuläre Funde wie auch einfache Gebrauchsgegenstände zeichnen das Bild einer agrarisch ausgerichteten Gesellschaft mit einer überregional vernetzten Oberschicht, die vor allem in üppig mit Edelmetall und römischen Importen ausgestatteten Gräbern sichtbar werden.
Allgemein bekannt sind die Germanenkriege Roms, allerdings nur aus römischer Sicht. Jedoch haben auch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen germanischen Stammesverbänden untereinander archäologische Spuren hinterlassen. Umfangreichen Kriegsbeuteopfer, die in Norddeutschland und Skandinavien in Mooren versenkt wurden, vermitteln einen Eindruck von der Größe germanischer Heere, ihrer Ausrüstung und Organisation nach römischem Vorbild. Einer der wertvollsten Funde aus dem Thorsberger Moor nahe Schleswig ist ein Zierblech aus vergoldetem Silber- und Bronzeblech mit plastisch herausgearbeitetem Tierfries und eng aneinandergereihten Menschenköpfen, das den Göttern als Dank für den Sieg im Kampf geopfert wurde.
Ausgewählte Exponate illustrieren mit ihren Inschriften die seltenen Schriftbelege in der Germania. Die älteste germanische Inschrift aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. auf der Fibel von Meldorf ist von rechts nach links als lateinische Buchstaben IDIN (Ida) und von links nach rechts in Runenschrift als HIWI (der Häuslichen) lesbar und verbindet somit das Runenalphabet mit dem Lateinischen, aus dem es entwickelt wurde.
Forschungen zu Germanen waren und sind wesentlich durch das Spannungsfeld zwischen römischem Reich und der Germania geprägt, wobei die römische Perspektive häufig im Vordergrund steht. Die Ausstellung stellt nun das germanische Siedlungsgebiet in den Mittelpunkt, behandelt aber auch Roms Verhältnis zu den germanischen Gesellschaften.
Im Katalogband gehen ansprechend illustrierte Artikel näher ins Detail, etwa Hans-Jörg Karlsen, „Zwischen Tradition und Innovation. Siedlungslandschaften der Germania magna” (66–83); Angela Kreuz, „Frühgermanische Landwirtschaft und Ernährung. Antike Schriftquellen und archäo-botanische Sicht” (118–145); Michael Meyer, „Eisen – Keramik – Kalk. Kaiserzeitliche Produktionsstrukturen im barbaricum” (146–157). – Der Berliner Althistoriker Ernst Baltrisch widmet seinen Beitrag der „Römische(n) Ethnographie. Germani, Iudaei, oder doch lieber Barbari?” (378–399). Dabei kommt er zu markanten Unterschieden und erklärt: „... in ihren Augen waren die Völker tatsächlich genau so, wie sie beschrieben wurden, und nur mit dieser Haltung konnten Römer etwas mit den Berichten anfangen. Aus der Perspektive Roms musste ja erklärt werden, warum Germanen bislang nicht unterworfen werden konnten” (396). Mit geographischen und ethnographischen Vorstellungen vom Norden in der Antike befasst sich auch Reinhard Wolters, „Germanenname und Germanenbegriff in der Antike” (450–463).
Die Germanenrezeption, speziell in den Berliner Museen, beleuchtet der zweite Teil der Berliner Ausstellung unter dem Titel „Germanen. 200 Jahre Mythos, Ideologie und Wissenschaft“ für das 19. und 20. Jahrhundert. Dieses Thema wird im „Vaterländischen Saal“ des Neuen Museums an einem historischen Ort präsentiert: Die spektakulären Wandgemälde zur „Nordischen Mythologie“ vermittelten um die Mitte des 19. Jahrhunderts einer breiten Öffentlichkeit erstmals eine bildliche Vorstellung vom nordischen Götterhimmel, die allerdings erst auf mittelalterlichen Quellen fußte. Die ausführliche Interpretation dieses Bilderfrieses, der auf die Überlieferungen der Edda zurückgeht, bildet den ersten Schwerpunkt in diesem Ausstellungsteil.
Vor dem Hintergrund von 200 Jahren Germanenforschung wird darüber hinaus gezeigt, wie sich die Berliner Museen im jeweils aktuellen Forschungsdiskurs zu Fragen der Herkunft, Ausbreitung und Datierung der Germanen positionierten und mit wandelnden Museumskonzeptionen reagierten: Im frühen 19. Jahrhundert bestimmten die Erwähnungen der Germanen in den Texten antiker Autoren deren Identität. Ende des 19. Jahrhunderts begann die Verknüpfung des antiken Volksbegriffs der Germanen mit archäologischen Kulturen. Im frühen 20. Jahrhundert etablierte sich ein Streit darüber, ob archäologische Kulturen der Bronzezeit oder Jungsteinzeit schon „germanisch“ seien. Dies schuf eine verhängnisvolle Nähe zur nationalsozialistischen Rassenideologie. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde nicht mehr vordergründig von Germanen, sondern von Trägern verschiedener archäologischer Kulturen der Vorrömischen Eisenzeit (ca. 600 v. Chr. bis zur Zeitenwende) oder der nachfolgenden Römischen Kaiserzeit (370/80 n. Chr.) gesprochen.
Tacitus Germania 1,1f. aus der Erstausgabe von 1472, gedruckt in Venedig durch Wendelin de Spira.
Auch im Katalogband bildet das Thema „Rezeption. Zwischen Wagner-Oper und musealer Präsentation” ein großes Kapitel (480–561) mit mehreren einschlägigen Beiträge, etwa: Susanne Grunwald und Kerstin P. Hofmann, „Wer hat Angst vor den Germanen? Zum Germanenbild in Archäologie, Gesellschaft und Politik”, (482–503), Marion Bertram, „'In dem schwankenden Meere prähistorischer Hypothesen'. Die Germanenfrage am Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte (1799–1945)”, 504–537), Matthias Wemhoff, „Germanenkult oder Mythengeschichte? Der Gemäldefries im Vaterländischen Saal des Neuen Museums in Berlin, 538–561). Zum Schluss des reich illustrierten Aufsatzbandes folgt eine Auflistung der in der Ausstellung gezeigten über 700 Fundstücke (564–583) sowie eine umfangreiche Literaturliste (585–636).
Zu beachten ist, dass es coronabedingt bis auf weiteres zu besonderen Einlass- und Hygieneregelungen in den Berliner Museen kommt: Die Anzahl der Besucher ist unter Berücksichtigung der räumlichen Kapazitäten begrenzt. Alle Besucher ab 6 Jahren verpflichten sich zum Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung, halten einen Mindestabstand von 1,5 Metern ein, folgen den ausgeschilderten Rundgängen und vermeiden Gruppenbildungen in den Räumen. Der Besuch ist ausschließlich mit einem Zeitfensterticket möglich, das vorab online gebucht werden kann: www.smb.museum/tickets

Hund, Katze, Maus. Tiere in Alltag und Mythos – das ist ein geniales Ausstellungsthema. Der Zugang scheint sehr einfach zu sein, wir sind von Tieren umgeben, von Haustieren, Nutztieren, wilden Tieren, zumindest im Zoo kommen wir ihnen sehr nah.
In der Münchner Ausstellung (sie wurde 2019 bereits im Pompejanum in Aschaffenburg gezeigt) gibt es eine Fülle von Kunstobjekten, größeren und kleineren, auf denen Tiere abgebildet sind, die schon Kinder kennen, bisweilen in Aktion oder dekorativ, witzig oder voller Körperkraft, informativ oder symbolisch, als Bestandteil eines Mythos, als Design oder als Anspruch auf politische Macht. Dem Betrachter fällt schnell auf, dass Tiere nicht einfach nur abgebildet werden, sondern dass es offensichtlich Vorstellungen über die Tierwelt gibt, die einem zeitlichen und geographischen, ästhetischen und funktionalen Wandel unterliegen. Beim Blättern in der sehr gut gemachten, reich illustrierten, informativen und spannend zu lesenden Broschüre von 88 Seiten kann man einen schönen Eindruck gewinnen, welche Fülle von Erfahrungen, Traditionen, Sichtweisen, Deutungen, Ansprüchen, Beobachtungen in den Tierdarstellungen aus tausend Jahren stecken. Mit den Augen des heutigen Betrachters liegt vieles nahe, mehr noch erschließt sich erst nach knappen Erläuterungen des geschichtlichen, religiösen, mythischen und kulturellen Kontextes. Der Lernerfolg, der sich dabei auf unkomplizierte Weise einstellt, bereitet nicht nur jugendlichen Betrachtern einiges Vergnügen. Zum Beispiel:
Auf die Griechen und Römer wirkte die unberührte Natur bedrohlich. Raubtiere gefährdeten die menschliche Existenz, ebenso wie Erdbeben, Überschwemmungen und Wetterunbilden. Nach Platon verhindert allein die Zivilisation, dass wilde Tiere über die Menschen herfallen. Eine solche von Menschen geschaffene Ordnung gibt es nur in Städten und ihrem kultivierten Umland, während in der ungebändigten Natur Chaos herrscht, wie der Philosoph konstatiert. Die griechische Kunst zeigt allerdings nur selten Bären oder Wölfe, die in Griechenland heimisch sind. Sie orientierte sich weniger an der Wirklichkeit als an der Symbolträchtigkeit von Bildmotiven, die häufig aus dem Orient übernommen wurden. So fallen die vielen Löwen unter den Darstellungen auf. Tatsächlich waren diese in der griechischen Welt – mit Ausnahme von Makedonien und Kleinasien – schon gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. ausgerottet worden. Kaum weniger gefährlich, aber weit häufiger anzutreffen waren Wildschweine. Bis heute graben sie auf Nahrungssuche ganze Felder um und bedrohen bäuerliche Existenzen. In die Enge getriebene Keiler oder um ihren Nachwuchs besorgte Bachen gehen schnell zum Angriff über und können selbst einen kräftigen Mann töten. Gefährliche Tiere übten auf die Menschen jedoch zu allen Zeiten auch eine hohe Faszination aus. Für die Griechen bildeten sie eine urtümliche Gegenwelt zu ihrer Zivilisation ab (4ff.).
Die Griechen lokalisierten die unzivilisierte Gegenwelt mit ihren bedrohlichen aber beeindruckenden Tieren zunächst in den wenig erkundeten Wald- und Bergregionen. Mit der zunehmenden Urbanisierung des Landes gaben sie die Vorstellung von ihr aber nicht auf. Stattdessen verlegten sie die Gegenwelt in immer weitere Ferne, man verortete sie schließlich in Ägypten, Indien oder südlich der Sahara. Die Faszination des Unbekannten blieb erhalten. Eine besondere Anziehungskraft ging von Indien aus, einer Region, die in der Zeit vor Alexander dem Großen nur vom Hörensagen bekannt war. Herodot berichtet, dass es dort menschenfressende Ameisen gäbe, die beim Anlegen ihrer unterirdischen Bauten Gold an die Oberfläche brächten. Wie in ihren Sagen erwarteten die klassischen Griechen im Unbekannten Gefahren, aber auch Chancen, die sich dem Mutigen und Starken boten. Nicht zuletzt die Neugier auf das ferne Land mit seiner exotischen Fauna bildete den Grund dafür, dass Alexander der Große mit seinem Heer nach Indien zog. Von dort brachte er Kriegselefanten mit, die in der griechischen Welt bald zum Sinnbild des Subkontinents wurden. Die Eroberung von Indien galt den Griechen noch vor der Zerschlagung des Perserreiches als größte Leistung des makedonischen Königs. Sein Leichenwagen war nach Diodor mit Elefanten geschmückt, damit jeder sehen konnte, dass hier der Bezwinger einer fernen Wunderwelt nahte. Unmittelbar nachdem er in Alexandria bestattet wurde, ließ der in Ägypten herrschende makedonische General Ptolemaios Münzen prägen, die Alexander mit dem Skalp eines Elefanten als Kopfschmuck zeigen. Das Motiv war angelehnt an den Herakles mit dem Löwenskalp auf den Tetradrachmen Alexanders (8ff.).
Ägypten selbst galt dabei als Sehnsuchtsland. Griechen und Römer beeindruckte das Alter der ägyptischen Kultur ebenso wie die exotische Tierwelt. ... Über Ägypten kamen auch Affen in den Mittelmeerraum. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich Meerkatzen aus Äthiopien. Reiche Griechen und Römer hielten sich die Tiere zu ihrem Vergnügen. Sie waren anders als Krokodile oder Elefanten kein Zeichen eines exotischen Landes, sondern eines exquisiten Lebensstils. Besondere Faszination übten ihre Ähnlichkeit mit Menschen, ihre Intelligenz und die Möglichkeit, sie zu dressieren, aus. Plinius vermerkt, dass es Affen gebe, die Brettspiele spielten. Aelian berichtet von einem Affen, der einen Wagen fuhr, die Zügel hielt und mit der Peitsche knallte. Auch Darstellungen zeigen Affen oft in menschlichen Situationen. Berühmt ist ein – leider schlecht erhaltenes – Wandgemälde aus Pompeii, das Aeneas mit seinem Vater Anchises auf dem Arm und seinem Sohn Ascanius an der Hand bei der Flucht aus Troja zeigt – nur dass alle drei Figuren affengestaltig sind. Auch zwei Affen auf einer Tonlampe verhalten sich nicht wie Tiere, sondern unternehmen eine Bootstour (s. Seite 10ff).
Kamele und Dromedare kannten Griechen und Römer dagegen nicht als wild lebende Tiere, sondern als wichtige Lastenträger. Sie brachten begehrte und wertvolle Waren wie Weihrauch aus Arabien über die Wüstenstadt Petra in den Mittelmeerraum. Über diese Route kamen auch Handelsgüter aus Indien und sogar Seide aus China, die per Schiff auf die arabische Halbinsel transportiert wurden. In der Kaiserzeit hielt auch die römische Armee in Syrien und Ägypten Dromedare. Sie waren für die Versorgung der Truppen in den Wüstengebieten unerlässlich. Ihrer Bedeutung entsprechend stellten schon die Griechen die Tiere als Last- und Transporttiere dar (14).
Griechen und Römer glaubten, dass auch die Darstellungen von Tieren deren Eigenschaften besäßen. Sie stellten oft Löwen in Heiligtümern und an Gräbern auf, die zum einen vor Plünderern schützen, zum anderen aber auch ganz allgemeine Gefahren und das Unglück abwenden sollten. Nach den damaligen Vorstellungen handeln die bösen Mächte ähnlich wie Menschen: Vor einem starken, gefährlichen Tier wie einem Löwen nimmt man besser Reißaus. Ein neuralgischer Punkt antiker Städte waren die öffentlichen Brunnen, aus denen die Bewohner ihr Wasser holten.
Versiegte die Quelle oder hatte das Wasser schlechte Qualität, dann war das eine existenzielle Krise für das Gemeinwesen. Die Griechen und Römer gestalteten die Auslässe für das Wasser daher oft als Raubtierköpfe. Keine finstere Macht sollte die Quelle sabotieren (22ff.).
Um 700 v. Chr. listet Hesiod drei Dinge auf, die jeder Mann brauche: ein Haus, eine Frau und einen Ochsen. Ohne letzteren ließen sich weder Felder bestellen noch schwere Waren transportieren. Erst im Mittelalter wurde ein Zuggeschirr, das Kummet, entwickelt, mit dem auch Pferde einen Pflug ziehen konnten. Die Arbeitskraft der Rinder war deshalb existenziell. Noch im späten 4. Jahrhundert v. Chr. bezeichnet Aristoteles den Ochsen als ‚Sklaven des armen Mannes‘. Die Bedeutung der Rinder in der Antike spiegeln die zahlreichen Stierfiguren in den Heiligtümern wieder. Mit diesen Weihegaben konnten die Götter um Gesundheit für das Vieh gebeten werden, oder sie ersetzten ein wertvolles Opfertier. Nur wenige konnten es sich leisten, den Stier, der für die Feldarbeit gebraucht wurde, zu schlachten. Die erhaltenen Nachbildungen sind aus Ton, Bronze oder Mar-mor. Ihr Format variiert zwischen weni-gen Millimetern Länge und Überlebensgröße. Eine solch monumentale Weihegabe war eine sehr
ansehnliche Stiftung, die den Wert eines echten Stieres bei weiten überstieg. Im Gegensatz zum flüchtigen Opferdampf verblieb die Statue wie auch die kleineren Statuetten im Heiligtum und erinnerte Götter wie Menschen an den Stifter und dessen Wohltat (44).
Größere Tiere wie Hirsche oder Wildschweine wurden von Hunden gestellt, bis die Jagdgesellschaft herangeritten kam. Die Männer – Frauen waren ausgeschlossen – ließen ihre Pferde stehen und versuchten, die Beute mit dem Speer zu erlegen. Der Zweikampf mit dem Tier wurde als ideale Vorbereitung auf den Krieg gesehen. Speziell den wehrhaften Wildschweinen begegnete man mit Respekt. Kleinere Tiere wie Hasen wurden von den Hunden aufgestöbert und dem Jäger zugetrieben. Dieser versuchte das Langohr mit einem gebogenen Wurfholz, dem Lagobolon, zu treffen. Apportieren war dann wieder die Aufgabe des Hundes. Reiche, Adlige und Herrscher feierten sich in antiken Bildwerken als erfolgreiche Jäger. Sie zeigten gegen gefährliche tierische Gegner ihren Mut, ihr Geschick und ihre Kampffähigkeiten, ideale Eigenschaften von militärischen und zivilen Anführern. Der gut ausgebildete und treue Hund war daher ein wichtiges Statussymbol der Oberschicht. Mit Argos, der auf seinen Herrn wartet, unterstreicht Homer die Führungsqualitäten des Odysseus. Die marmornen Hunde in Grabbezirken bewachten nicht nur das Grab, sondern dokumentierten mit ihrem gesenkten Kopf auch ihre Trauer um den verstorbenen Herrn. Sie wiesen diesen damit als Vertreter der Oberschicht aus. Auf Vasen erscheinen Jagdhunde oft in häuslichen Szenen, wie etwa beim Gelage. Die Tiere sind auch regelmäßig neben den Eltern beim Abschied eines Kriegers zu sehen, der in die Schlacht zieht (62ff).
Lasttiere, exotische Tiere, wilde Tiere, Haustiere erschließen weite Teile der ägyptischen, griechischen und römischen Welt, der großen Kultur und des Alltags. Gerade diese Ausstellung und der dazu vorliegende Katalog (auch in digitaler Form erhältlich) könnten Anstoß dazu sein, das Thema sich vorzunehmen – als Unterrichtsprojekt, als Gegenstand für viele junge Forscher und als Motivation, erste Ergebnisse noch tiefschürfender zu verfolgen.
Andreas Scholl, Antikensammlung Berlin. Meisterwerke antiker Skulptur. Altes Museum, Neues Museum. Pergamonmuseum. Mit Fotografien von Johannes Laurentius, Verlag C. H. Beck, ISBN 978-3-406-73499-1, 256 Seiten, mit 160 Abbildungen, davon 140 in Farbe, Klappenbroschur. 24,00 Euro (auch in englischer und rusischer Sprache erhältlich)

Andreas Scholl ist seit 2004 Direktor der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Bis 2015 lehrte er – nach Assistentenzeiten in Münster, Köln und Bonn – als Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. Die Antikensammlung Berlin ist bekanntlich eine der bedeutendsten weltweit. Nach langen Jahrzehnten der Teilung ist die Sammlung seit einiger Zeit wieder auf der Museumsinsel vereint, neu geordnet und attraktiv präsentiert. Beim Betrachten der griechischen, zyprischen, etruskischen und römischen Skulpturen entsteht deshalb zugleich auch eine kleine Geschichte der antiken Bildhauerkunst.
Die Sammlung der Kykladenkultur wird auf der dritten Ebene des Neuen Museums im europäischen prähistorischen Kontext gezeigt. In diesem schönen neuen Buch, gefördert vom Verein „Freunde der Antike“, stellt Andreas Scholl die prächtigsten Werke vor. Zu ihren Höhepunkten gehören – das weiß man aus jedem Latein- und Griechischlehrbuch – etwa die Stele Giustiniani, die «Berliner Göttin», der «Betende Knabe», die verwundete Amazone, der «Grüne Cäsar», das Bildnis der Kleopatra und der überwältigende Skulpturenschmuck des Großen Altars von Pergamon.
Andreas Scholl gibt in diesem üppig illustrierten Band einen gut zu lesenden Überblick über die antiken Skulpturen in eigentlich mehreren Museen: über die im Alten und im Neuen Museum, im Pergamonmuseum und dem Interimsbau «Pergamonmuseum. Das Panorama». Erklärt werden sowohl die künstlerischen und technischen Qualitäten der Statuen und Reliefs als auch ihr einstiger kultureller Kontext, ihre Funktionen auf Gräbern, an öffentlichen Plätzen oder in Heiligtümern.
Schließlich wird die wechselvolle, 350-jährige Geschichte der Sammlung, die nach dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Teilung endlich wieder auf der Museumsinsel vereint ist, ausführlich und mit vielen historischen Aufnahmen dargestellt (204–236). Der Band ist mit zahlreichen Neuaufnahmen des langjährigen Museumsfotografen Johannes Laurentius großzügig illustriert.
Andreas Scholl zeigt auch, wie sich Museumspräsentation und archäologische Forschung im Laufe der Zeit gewandelt hat, wie der Zweite Weltkrieg und die Teilung Berlins der Sammlung mitgespielt haben und wie sich dann wieder alles 1998 im Alten Museum zusammengefügt hat.
Getreu Schinkels Motto „erst erfreuen, dann belehren“ (Titel eines Buches von Wolf-Dieter Heilmeyer zur Museumsforschung, 2014), skizziert der Autor auf den ersten Seiten des Buches die jüngste Geschichte der Museen (Die Berliner Antikensammlung heute, 7–39), bevor er sich den Spitzenwerken griechischer, etruskischer und römischer Kulturgeschichte widmet. Eigens für die Sammlung und die königliche Gemäldesammlung wurde das Alte Museum angelehnt an griechische Architektur als erstes öffentliches Museum in Preußen – auch daran muss im Kontext heutiger Bildungsdebatten erinnert werden – gebaut und am 3. August 1830 eröffnet.
Mich fasziniert an diesem Buch ganz besonders die sprachlich meisterhafte und didaktisch kluge Beschreibung der einzelnen Kunstwerke, die man zuweilen ja schon genau zu kennen meint. Zweimal ist mein Lieblingsgrabrelief, die Stele Giustiniani, abgebildet (40; 88): „Als bekrönender Abschluss des Grabmals dient ein prachtvoll sich entfaltender Palmettenfächer, dessen Blattkelch hier erstmals auf einer griechischen Grabstele einen Akanthus umfasst ... Solche später häufigen vegetabilen Zierelemente griechischer Grabmäler sind kein gedankenlos dekorativer Schmuck, sondern symbolisieren das sich in der Natur immer wieder erneuernde Leben” (89). – Bei der Berliner Amazone, einer römischen Kopie eines Originals im Heiligtum der Artemis von Ephesos, das aus stilistischen Gründen dem berühmten Polyklet von Argos zugeschrieben wird, erzählt Andreas Scholl die Anekdote über den Wettbewerb (bei Plinius d.Ä., Naturalis historia 34, 53) der berühmtesten Bildhauer klassischer Zeit nicht ganz zu Ende, was natürlich Schülerinnen und Schüler interessiert: aller fünf Künstler setzten ihre eigene Amazonendarstellung – natürlich – auf Platz eins (was aber nicht zählte!). Von allen Künstlern ging aber der zweite Preis an Polyklet – also an unsere Berliner Amazone, den zweiten Platz belegte Phidias, den dritten Kresilas, den vierten Kydon und den fünften Phradmon. – Dass auch Skulpturen ihre Geschichte haben, erfährt der Leser des Buchs beim „Betenden Knaben”, einer der wenigen erhaltenen griechischen Großbronzen überhaupt. Bereits 1503 beim Ausbau der Befestigungen von Rhodos-Stadt durch die Kreuzritter gefunden führte ihn eine bewegte Sammlungsgeschichte durch halb Europa, bis schließlich 1747 Friedrich der Große ihn erwarb. Zunächst wurde er auf der Terrasse von Schloss Sanssouci in Potsdam aufgestellt, wo der antikenbegeisterte Preußenkönig beim Blick aus seiner Bibliothek ihn stets vor Augen hatte.
In jüngster Zeit gab es im Museum umfangreiche Forschungen zur griechischen Bronzeguss-Technologie, u.a. wurde versucht, den „Betenden Knaben” nachzugießen (80ff.). – Interessantes auch zur Kalksteinstatue des „Sklavenjungen aus der wohlhabenden Hafenstadt Tarent” (102f.), der einzigen Kolonie Spartas; in klassischer Zeit gab es dort „elaborierte Grabbauten mit üppigem Skulpturenschmuck, die sich am Vorbild Athens orientierten. ... Es kann kaum verwundern, dass Sklaven bei denen von ihnen selbst errichteten Grabmälern einer idealisierenden Darstellungsweise den Vorzug gaben und sich dabei an den Bildschemata der Freien orientierten” (103). – Viele Interessante Details auch über Funktion, Aufstellungsort, künstlerische Qualität, Individualität und porträthafte Merkmale bietet die Beschreibung des Porträtkopfes eines römischen Jungen (202f.) mit der Überschrift „Tragik, Trauer und Trost im alten Rom” und der Anmerkung: „Der Berliner Knabenkopf aus der Regierungszeit des Kaisers Hadrian gehört zu den künstlerisch ambitioniertesten seiner Art. Kaum eine römische Kunstgeschichte und erst recht kein Lehrbuch des Lateinischen kommen ohne ihn aus” (202).
Nicht nur wegen der Abbildungen und der Erläuterungen zu den prächtigen Porträts von Caesar und Kleopatra, von Konstantin, Caracalla und Hadrian, wegen des berühmten Dornausziehers, der Statue des Meleager – übrigens aus dem Besitz des Juristen Ulpian (185) – mit seinem aufmerksamen Jagdhund, sondern auch wegen der anrührenden Gestalt der Trauernden Dienerin, des Torso eines alten Fischers, der Berliner Knöchelspielerin oder vieler anderen überwältigender Skulpturen gehört dieses schöne (und überdies preiswerte) Buch in das Regal jedes Latein- und Griechischkollegen, der die Bildungsangebote der Berliner Museumsinsel für seinen Unterricht nutzt –
alle Welt beneidet uns darum.

Hätte der Schöpfer Himmels und Erden die Monade Mario Geymonats schon im 17. Jahrhundert in diese Welt entlassen, wäre ihr eine Laufbahn in den höchsten Würden der alleinseligmachenden Kirche sicher gewesen. Zumindest Erzbischof, wahrscheinlich Kardinal, ja vielleicht sogar Nachfolger des Apostelfürsten, oberster Priester der Weltkirche und Diener der Diener Gottes wäre er geworden. Denn wer hätte zu konkurrieren gewagt mit seiner majestätischen Erscheinung, seiner sonoren Stimme, seinem eleganten und wohllautenden Latein sowie seiner trotz der Zelebrierung seiner Autorität ununterdrückbaren Fähigkeit, den einzelnen, dem er sich jeweils zuwandte, inniglich fühlen zu lassen, er habe gerade dessen Heil im Spiel?” (S. 9).
Mit diesen Sätzen und vermutlich mit einem Schmunzeln beim Schreiben beginnt Vittorio Hösle, 1960 in Mailand geboren, wo sein Vater das dortige Goethe-Institut leitete, und derzeit Professor für Philosophie an der University of Notre Dame in Indiana (USA), seinen ungewöhnlichen Nachruf auf Mario Geymonat, seinen Onkel: den Latinisten und Weltrevolutionär (1941–2012). Die italienische Wikipediaseite zu Mario Geymonat verrät, dass er zu den Gründern del Partito Communista d'Italiana maoistischer Provenienz zählte.
Vittorio Hösle bestätigt: „Deutlich sichtbar war, dass seine Bibliothek neben den größten Werken der Menschheit auch die gesammelten Schriften Stalins, Maos und Enver Hoxhas umfasste, bei deren Blättern ich mich stets gelangweilt fragte, ob denn meinem Onkel das Qualitätsgefälle zu den anderen Büchern, die er sich zugelegt hatte, wirklich entgehe. Sah er denn nicht, dass Tacitus, wie reaktionär auch immer er gewesen sein möge, erregender zu lesen sei? Und nicht minder fragte ich mich, ob ihm denn nicht die Artikel peinlich seien, die in der Nuova Unità, deren verantwortlicher Direktor er war, unter seinem eigenen Namen erschienen, obwohl er sie nicht selber verfasste – 'laß mich mal sehen, was meine Kameraden mich schreiben lassen', pflegte er zu sagen, wenn er zu diesem Blatte griff ...” (63). Als Latinist war Mario
Geymonat in Siena, an der Universität della Calabria, in Mailand und zuletzt in Venedig tätig. Seine Leidenschaft war die Textkritik: „neben der Edition der Scholien zu dem hellenistischen Dichter Nikander bleibt sein Hauptwerk die großartige, ja, variantenreichste Edition Vergils, und Vergil galt unter allen antiken Dichtern seine größte Liebe. Horaz' Weltklugheit und Eleganz erkannte er an, aber er wußte, dass Größe mehr ist” (55). Sein letztes, auch ins Englische übertragene Buch, galt Archimedes (56). „Cicero mochte
Mario besonders, auch wenn er wußte, daß die meisten seiner Kollegen die Nase über ihn rümpften. 'Es gab Zeitalter, die ihn wahrscheinlich überschätzt haben; unseres unterschätzt ihn ganz sicher', klagte er einmal mit melancholischer Stimme, und ich glaubte zu spüren, daß er sich selbst als Nachfolger Ciceros sah. Kein scharfsinniger Denker, als Politiker eine Fehlbesetzung und voller persönlicher Widersprüche, aber doch voller Wissensdrang, außerordentlich redegewandt selbst bei der Darlegung von Platitüden und ehrlich den Werten der Humanität verpflichtet. Diese telegraphische Charakterisierung trifft beide Männer” (58).
Das kleine Buch mit dem lesenswerten Nachruf hält sich nicht an akademischen Fakten fest. Sehr einfühlsam, bisweilen nachdenklich, aber auch recht humor- und vor allen Dingen liebevoll schildert Vittorio Hösle das Leben seines Onkels. „Morgens waren es immer diverse Tageszeitungen, die er las, interessanterweise 'bürgerliche' mindestens ebenso aufmerksam wie kommunistische – er verbrachte soviel Zeit mit ihnen, daß man, wenn man den Hegels Aphorismus vom Zeitungslesen als modernem Äquivalent des Morgengebetes ernst nimmt, ihn für einen außerordentlich frommen Modernen halten mußte. Spät am Tag las er die Klassiker, oft diagonal, manchmal außerordentlich langsam und sorgfältig, aber immer so, daß er, wenn man zum Nachmittagstee wieder zusammenkam, erhellend und witzig etwa über Catull, Properz oder Tibull plaudern konnte ... Marios Lebensideal war im Grunde das eines gebildeten Landadeligen, für den Arbeit entehrend ist und intelligente Muße das Maß eines würdigen Lebens ausmacht. Zu dieser intelligenten Muße wollte er auch seine Kinder, Neffen und Nichten erziehen” (45f.).
Vittorio Hösle zeigt in diesem kleinen Buch auf einfühlsame, amüsante, kluge, dankbare Weise, wie eine große Familie funktioniert, wie ihn diese Familie und besonders sein Onkel Mario Geymonat in vielfacher Hinsicht geprägt haben, und gewährt dabei auch tiefe und sehr persönliche Einblicke in seine eigene Entwicklung hin zu einem der bedeutenden und produktiven Philosophen und Literaturwissenschaftler der Gegenwart (man denke nur an die Bücher Ovids Enzyklopädie der Liebe. Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichtsphilosophie und metapoetische Dichtung in den ‚Metamorphosen‘, 2020, Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, 2006, Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles. Ästhetischhistorische Bemerkungen zur Struktur der attischen Tragödie, 1984).

In den 80-er Jahren galt Vittorio Hösle als der „Boris Becker der Philosophie“ – wegen der hohen Geschwindigkeit seiner Karriere. 1960 in Mailand geboren kam er 1966 nach Deutschland, wo er – nachdem er zwei Klassen übersprungen und ein Jahr an einer deutschen Auslandsschule in Barcelona verbracht hatte – mit 17 Jahren in Regensburg am Humanistischen Albertus-Magnus-Gymnasium das Abitur ablegte. Hösle studierte anschließend Philosophie, Allgemeine Wissenschaftsgeschichte, Klassische Philologie und Indologie in Regensburg, Tübingen, Bochum und Freiburg. 1982 wurde er summa cum laude in Tübingen promoviert, als Fünfundzwanzigjähriger habilitierte er sich dort im Jahre 1986.
Nur um die vielen Stationen seines akademischen Lebenslaufs (vgl. http://phaidon.philo.at/asp/vhoesle.htm) aufzuzählen, benötigt Vittorio Hösle mittlerweile zwei eng beschriebene DIN A 4-Seiten. Zudem ist er als Autor ausgesprochen produktiv, seine Literaturliste ist ziemlich lang und vielseitig (vgl. https://nd.academia.edu/VittorioHosle/CurriculumVitae), hervorzuheben (mit Blick auf die Schule) sind Das Café der toten Philosophen. Ein philosophischer Briefwechsel für Kinder und Erwachsene, C. H. Beck Verlag, München 1996, Sonderausgabe 1998 (=Beck'sche Reihe 4017), 256 S. und Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, C. H. Beck Verlag, München 2006, 494 Seiten.
Im Universitätsverlag Winter Heidelberg ist soeben ein weiterer Band erschienen, der seinem Faible für die Klassische Philologie zugerechnet werden kann, Ovids Enzyklopäie der Liebe, – jedenfalls dankt er im Vorwort seinen „vorzüglichen Lateinlehrern am Regensburger Albertus-Magnus-Gymnasium, insbesonders Klaus Karl und Günter Kornprobst” sowie seinem Onkel, dem Latinisten Prof. Dr. Mario Geymonat, „der mir schon früh eine Liebe zu lateinischer Dichtung vermittelte, die für ihn freilich in Vergil gipfelte”, und seinem Sohn Paul, „mit dem ich viele Ideen besprechen konnte”. Das Buch bietet eine Interpretation von Ovids Hauptwerk, die sich nicht auf einzelne Episoden beschränkt, sondern im Zusammenhang detaillierter Deutungen aller einzelnen Mythen die Ordnungsprinzipien herausarbeitet, die der Reihenfolge der Geschichten zugrunde liegen. Die zentrale These ist, dass Ovid eine Geschichtsphilosophie des erotischen Verhaltens entwirft und dabei den ganzen Kosmos erotischer Formen systematisch ausbreitet. Neben den intra- und intertextuellen Bezügen auf die griechische und lateinische Dichtung wird die Kritik an Platons Liebesphilosophie in den Vordergrund gerückt. Eine vollständige Analyse der metapoetischen Passagen erlaubt die Rekonstruktion von Ovids komplexer Philosophie der Kunst, die Ovid als einen der größten philosophischen Dichter der Weltliteratur erweist.
Auf die Frage nach der Notwendigkeit eines weiteren Buchs über Ovids Metamorphosen meint der Autor, „manchmal erlaubt der philosophische Blick die Fokussierung auf Fragestellungen, die einem Philologen möglicherweise eher entgehen, wie etwa das System der Liebesformen, die poetische Deutung der historischen Entwicklung und die höchst komplexe Theorie der eigenen Dichtung” (Vorwort).
Adam Elsheimer – Jupiter und Merkur bei Philemon und Baucis (1608)
Als Fazit seines Buches schreibt Vittorio Hösle, „dass die Metamorphosen keineswegs an Erzählchaos leiden, ... und dass die intertextuelle Verzahnung des Werkes außerordentlich hoch ist. Der Übergang von einer Geschichte zur anderen ergibt sich nicht, oder nur oberflächlich, aus der überlieferten chronologischen Ordnung, sondern teils aus „Spiegelungen bestimmter Grundstrukturen an unterschiedlichen begrifflichen Achsen, teils aus einer komplexen Geschichtsphilosophie erotischer Begierde. ... Kein antiker Dichter seit Euripides hat so tief die weibliche Psychologie ausgelotet wie Ovid. Nur langsam bricht sich das Prinzip Bahn, dass nur symmetrische Liebe, die nicht auf Gewalt und List, sondern auf Konsens basiert, zulässig ist und dass sie sich am vollkommendsten in einer lebenslangen Ehe artikuliert. Rom scheint Ovid gegenüber den Griechen diesbezüglich einen großen Fortschritt darzustellen. Verschränkt mit diesem Fortschritt ist, wie bei Aischylos, ein Milderwerden der Götter. Ihre Strafen verlieren die anfängliche Grausamkeit und wenden sich nicht mehr gegen Unschuldige. In der Ordnung der Liebesformen von einfachen zu komplexen folgt Ovid dem größten römischen Lehrgedicht; er will gleichsam ein Lukrez der Seele sein” (255). ... „Wenn es ein Werk der lateinischen Literatur gibt, das der Aeneis das Wasser reichen kann und sie vielleicht sogar übertrifft, dann sind das die Metamorphosen, und sie allein” (258).

Auf der Tagung des internationalen „réseau de la poésie augusténne“ (14.–16.12.2017) im Rahmen des Ovid-Bimilleniums wurde dessen späte Dichtung auf das Phänomen „Exil“, seine Voraussetzungen und Folgen hin untersucht. Zu diesem Zwecke wurden vor allem die Tristien und die Epistulae ex Ponto einer intensiven, problemorientierten Lektüre und Diskussion unterzogen. Dabei wurde analysiert, welche generischen und poetologischen, ästhetischen und psychologischen, sozialen und politischen Dimensionen des Exils Ovid in seinen Texten verhandelt. Eingeladen waren Latinisten und ausgewiesene Ovid-Spezialisten von den Universitäten in Lille, Udine, Erlangen, Cambridge, Siena und Heidelberg. Die Leitung lag bei Prof. Dr. Melanie Möller, Latinistin an der Freien Universität Berlin, die mit dieser Tagung die Reihe von Veranstaltungen zum Ovidjahr 2017 beendete, dazu zählte u.a. der Workshop Zwischen Kanon und Zensur. Ovid als Bildungsgegenstand (15. und 16.09.2017), die Ringvorlesung: Deconstructing Gender? Ovid und die Frauen (20.04.–20.07.2017), das Propädeutikum: 2000 Jahre Ovid. Das Werk und seine Kontexte (20.02.–03.04.2017) und die Podiumsdiskussion: Ovid und „die europäische Phantasie" (03.03.2017). Die Beiträge in diesem im Universitätsverlag Winter in Heidelberg erschienenen Tagungsband eint der Versuch, Ovids spezifische (Schreib-)Situation in aktuelle Debatten über das Thema ‚Exil‘ einzuordnen und die Exilliteratur als eine radikale Form des Schreibens, als 'Exzessive Writing', zu begreifen.
In ihrer Einführung stellt Melanie Möller zunächst die Frage, „was unter 'Exil' zu verstehen ist: Während die einen glauben, darunter dürfe nur eine Situation begriffen werden, in der jemand unter Zwang und Verlust seiner existenziellen Grundlagen seinen angestammten Wohnort verlassen muss, wird der Begriff von anderen weiter gefasst; 'Exil' kann demnach auch eine selbstgewählte Situation (wie eine freiwillige Ausreise) meinen und muss nicht unbedingt persönliche Verluste wie Staatsbürgerschaft und Heimatrecht oder ökonomische Einbußen umfassen. Bei genauerem Vergleich erweist sich der weitere Begriff als tragfähiger. ... Unter 'Exilliteratur' fällt folglich jede Art von Text, der in einer erzwungenen oder selbstgewählten Isolation entstanden ist. Ein besonders pikantes Beispiel für eine solche 'offene' Exilsituation, die zugleich alle Aspekte des engeren Konzepts berührt, stellt die Verbannung Ovids nach Tomis dar" (Einführung, S. 9).
Der Band gliedert sich in zwei Teile; ein erster versammelt Beiträge die sich stärker mit dem Exil als künstlerisch überformter Lebenshaltung Ovids befassen. im zweiten Teil wird Ovids Lebensexil ebenfalls auf der Basis von Ovids Texten verhandelt, aber stärker in Anlehnung an deren Rezeption betrachtet. Der exilierte Ovid dient prominenten Dichtern bzw. Schriftstellern von der Spätatntike bis in die Moderne als Provokationsfigur, mit der man sich so produktiv wie kontrastiv auseinandersetzt. In ihrem eigenen Beitrag „Ovid und Odysseus. Zur Rhetorik des Exils" betrachtet Melanie Möller die Odyssee als zentralen Referenztext. In Ovids Tristien und Epistulae ex Ponto werde das Exil als ein Ausnahmezustand stilisiert, dessen Kriterien in beständiger Orientierung an der Metropole Rom entwickelt werde. „Bei diesem Exil werden nicht etwa historische Realitäten gegen fingierte Daseinsbedingungen ausgespielt; es ist die Metaphorizität des eigenen Lebensentwurfs, die der Leserschaft vor Augen geführt wird" (14).

Ein weiteres schönes Buch aus der Feder von Arnold Esch, Professor für Mittelalterliche Geschichte und bis zu seiner Emeritierung Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, ist anzukündigen. Nach den jüngsten Titeln Rom. Vom Mittelalter zur Renaissance, (München 2016) und Historische Landschaften Italiens. Wanderungen zwischen Venedig und Syrakus, (München 2018), erschien vor wenigen Wochen im Verlag C. H. Beck das Buch Von Rom bis an die Ränder der Welt. Geschichte in ihrer Landschaft.
Esch forschte hauptsächlich zur italienischen Geschichte im 14. und 15. Jahrhundert, vor allem zur Geschichte Roms und des Papsttums im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance. Immer wieder - wohl nicht erst, seit er in den 90er Jahren mit seiner Frau die fünf aus der Antike überkommenen Straßenzüge (Via Appia, Via Cassia, Via Flaminia, Via Salaria, Via Valeria) durchwanderte und erforschte – versucht er, dem Leser „die Freude, der Geschichte in freier Landschaft nachzugehen“, zu vermitteln. In seinen Büchern kann sich der Leser seinen Führungsqualitäten bei verschlungenen Wegen durch italienische und europäische Landschaften anvertrauen und wird im Laufe der Wanderungen auf Spektakuläres und mehr noch auf ganz Unscheinbares und Übersehenes hingewiesen, das zu erkennen und historisch-archäologisch einzuordnen es ein Gelehrtenleben braucht und große Neugier und das den Gang durch europäische Archive ebensosehr schätzt wie lange Wanderungen durch vielfältige, den natürlichen Kräften unterliegende Landschaften.
Im Kontext des Nachlebens der Antike hat Arnold Esch sich mit der Wiederverwendung antiker Architekturstücke an mittelalterlichen Gebäuden befasst. Wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen sind ein weiterer Forschungsschwerpunkt: Papstbankiers, bargeldloser Zahlungsverkehr im spätmittelalterlichen Europa, Handel zwischen Christen und Muslimen, Importe in das Rom der Frührenaissance anhand der hier erstmals systematisch ausgewerteten römischen Zollregister. Esch gilt als einer der besten Kenner des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rom und des spätantiken-frühmittelalterlichen Straßennetzes in Mittelitalien.
Arnold Esch führt in seinem neuen Buch nicht nur durch das ihm besonders vertraute Italien, sondern diesmal bis an die „Ränder der Welt”. Er folgt, vom 20. Jahrhundert bis weit in die Antike zurück, den Spuren von Pilgern, Kaufleuten und Gelehrten quer durch Europa bis nach Jerusalem, an die Küsten Afrikas und in die Weiten der Mongolei. Ob römischer Soldat, Abgesandter des französischen Königs, Ablaßkollektor oder Verbannter auf einer Atlantikinsel – die Stimmen, die hier aus den unterschiedlichsten Quellen zu Wort kommen, sind äußerst vielfältig und lebendig. Meisterhaft – keine Übertreibung! – vermittelt der Autor auf seinen 20 Erkundungen die Geschichte vergangener Welten – eine Einladung zu einer Lesereise durch gänzlich verschiedene historische Landschaften. Durch Arnold Esch kundig angeleitet, folgt der Leser im Frühling 212 n. Chr. einem römischen Inschriften-Ausmeißler entlang der Meilensteine auf der Straße von Augsburg nach Salzburg (Kap. vii. Mit dem Inschriften-Ausmeißler unterwegs. Eine Wanderung auf der Römerstraße Augsburg – Salzburg im Frühjahr 212 n. Chr.), überquert im Jahr 1129 mit dem Bischof von Lüttich die Alpen (Kap. ii. Paßlandschaften und Paßverkehr im Alpenraum. Ein Überblick über die verfügbaren historischen Quellen), reitet 1253 mit einem Abgesandten des französischen Königs 7000 km von der Krim bis in die Mongolei (Kap. xviii. Endlose Weite. Ein Ritt vom Schwarzen Meer in das Innere Asiens), begleitet 1470 einen Ablaßkollektor auf seiner von Ärgernissen und Überfällen geprägten Reise durch Deutschland und die Niederlande (Kap. xi. Der Ablaßkollektor: Eine Reise durch Deutschland in die Niederlande anhand einer Spesenabrechung, 1470–1472), erhält praktische Reisetips eines Gelehrten aus dem 18. Jahrhundert (Kap. xv. Die Praxis des Reisens: Eine Vorlesung an der Universität Göttingen, 1772–1795) und ortet lateinische Inschriften nur wenige Kilometer vom Kaspischen Meer entfernt, im Nordwesten der Lybischen Wüste und im hohen Norden der Britischen Inseln (Kap. xvi. An den Rändern des Römischen Reiches. Inschriften vom Rande der Steppe und vom Rande der Wüste).
Wenn dieses ebenso kenntnisreich wie unterhaltsam geschriebene Buch Sie zu eigenen Erkundungen einladen sollte, an vielen Stellen finden Sie in diesem Band die exakten Geodaten. Ein Beispiel, eine römische Straße im bayrischen Voralpenland östlich des Chiemsees: „Aber wir wollen uns hier einmal nur an dem idyllischen Standort freuen und dem so gar nicht musealen Nachleben des Steins '10 Meilen von Salzburg': inmitten der Wiesen, versetzt an einen Feldweg zwischen Kraimoos und Schmidham unweit der römischen Straße, steht er da im Schatten einer Linde als Sockel eines Bildstocks, von römischer Staatspropaganda (was jeder Meilenstein war) zum Andachtsbild geworden (470 53' 14''/ 120 35' 10'')” (S. 143). – Ein wunderbares Buch über die Freuden und Mühen historischer Erkenntnis in freier Landschaft.

Quintus Aurelius Symmachus (* um 342; † 402/403) war Senator, Konsul und Stadtpräfekt im spätantiken Rom. Das Amt war ungemein prestigeträchtig, denn der praefectus urbi Romae agierte als Stellvertreter des weströmischen Kaisers (der in Mailand residierte) und hatte ihn über die Verhältnisse und etwaige Probleme in der alten Hauptstadt zu informieren. Als einer der bedeutendsten Redner seiner Zeit wurde Symmachus von seinen Zeitgenossen mit Cicero verglichen, die Stadt Mailand ernannte ihn im Jahr 384 zum Leiter der Berufungskommission für den dortigen Rhetoriklehrstuhl. Dank der umfangreich erhaltenen Korrespondenz – er hat seine private Korrespondenz nach dem Vorbild der Epistulae des jüngeren Plinius veröffentlicht – ist sein Lebensweg außergewöhnlich gut dokumentiert.
Die Familie der Symmachi war unter Konstantin dem Großen in den Senatorenstand aufgestiegen. Der Vater des Symmachus, Lucius Aurelius Avianius Symmachus, war von 364–365 Stadtpräfekt von Rom und designierter Konsul für das Jahr 377, zuvor hatte er das Amt des Getreidepräfekten innegehabt und als vicarius urbis Romae eine bedeutende Stellung bekleidet. Der Urenkel des Symmachus war Quintus Aurelius Memmius Symmachus; er verfasste um 520 eine heute verlorene „Römische Geschichte“ und war Schwiegervater des Philosophen Boëthius. Dessen mit den Symmachi verschwägerten Geschlecht der Anicii gehörte auch Papst Gregor der Große an. Die Familie des Symmachus war sehr begütert, zu ihrem Besitz zählten drei Stadthäuser in Rom und eines in Capua sowie 15 Vorstadtvillen in Italien, drei davon in Rom. Quintus Aurelius Symmachus - um den es hier geht - fungierte als Quästor, Prätor und pontifex maior. Im Jahr 365 wurde er Statthalter der Provinz Lucania et Bruttium, 369 betraute ihn der Senat mit einer Gesandschaft an den kaiserlichen Hof in Trier, wo er anläßlich des fünfjährigen Regierungsjubiläums von Valentinian I. (364-375) eine Lobrede auf den Kaiser hielt und Freundschaft schloss mit Decimus Magnus Ausonius, dem Erzieher des Kaisersohnes Gratian; 373/374 war er Prokonsul von Africa.
Eng verbunden ist sein Name mit dem Protest gegen heidenfeindliche Maßnahmen und sein Eintreten für die Wiedererrichtung des Victoria-Altares in den Jahren 382 und 384, was politisch und literarisch ein großes Echo ausgelöst hat. Gratian hatte im Jahre 382 die staatlichen finanziellen Zuwendungen an den Vesta-Kult eingestellt und den Victoriaaltar, das Symbol der Sieghaftigkeit Roms, erneut aus der Kurie entfernt, er hatte die Grundstücke der heidnischen Priesterschaften einziehen lassen und ihnen jegliche ökonomische Unterstützung durch den Staat entzogen. Eine von Symmachus geführte Gesandtschaft - er zeigt sich hier als ein bei der altrömischen Restaurationsbewegung im Westen maßgeblich beteiligter Akteur - protestierte 382 gegen diese Maßnahmen, wurde aber am Mailänder Hof abgewiesen. Symmachus war damals aufgrund seines Protests aus Rom verbannt worden, dennoch gelang ihm nach dem Tod Gratians 383 die politische Rückkehr und im Jahre 384 die Wahl zum Stadtpräfekten. Noch in diesem Jahr verfasste Symmachus die dritte Relatio an den Kaiser, in welcher er um Wiederaufstellung des Victoriaaltars und daneben um staatliches Geld für den Vestakult bat. Die Bittschrift wurde von christlichen Gegnern in umfangreichen Widerlegungen nachgeahmt, so besonders die Rom-Prosopopoiia (Symmachus, Dritte Relatio 9–10). Aus Sicht der mehrheitlich noch heidnischen Senatoren galt es, die Reste der paganen Kultur zu schützen.
In der hier anzuzeigenden lateinisch-deutschen Tusculum-Ausgabe Symmachus, Amtliche Schreiben (Berlin/Boston 2020) werden von Alexandra Forst, Universität Potsdam, sämtliche relationes des Symmachus, 49 an der Zahl, erstmals ins Deutsche übersetzt; zudem sind sie jeweils mit einer Einführung und mit den historischen Hintergrund, Sachen und Personen benennenden Erläuterungen versehen. Die relationes des Q. Aurelius Symmachus sind amtliche Berichte, die dieser als Stadtpräfekt von Rom in den Jahren 384 und 385 an die Kaiser schrieb. Die zahlreichen Schreiben behandeln zum einen Rechtsfragen (17 Schreiben), zum anderen Themen der allgemeinen Verwaltung (32 Schreiben), also ein großes Repertoire an Aspekten: Sie berichten etwa von Versorgungsproblemen in Rom, der Ausrichtung von Spielen oder unqualifiziertem Personal, aber auch von einigen Zivil- und Strafprozessen; es geht um den Status eines in Rom lehrenden Philosophen, um die Höhe von Aufwendungen bei senatorischen Ämtern, es geht um die Aufstellung von Statuen und Reiterstandbildern. Auf diese Weise beleuchten sie eindrucksvoll die Verwaltungs- und Rechtspraxis jener Jahre.
Die recht umfangreiche, häufig kopierte und in fünf Florilegien publizierte relatio III in Sachen Victoriaaltar (26–41) wurde schon erwähnt. Weniger anspielungsreich und geschichtlich bedeutsam ist der Konflikt um ein repräsentatives vierrädriges Prunkfahrzeug, gezogen von vier weißen Pferden, mit dem ein städtischer Amtsträger seine Auftritte zelebrierte. Symmachus plädiert in dieser Sache für eine bescheidene Amtsführung und empfiehlt (offensichtlich erfolgreich) dem Kaiser: „Schafft den Wagen ab, dessen Ausstattung auffallender ist; wir wollten immer lieber den, dessen Tradition älter ist” (Relatio III; vgl. Relatio XX). Als das Gefährt aus dem Verkehr gezogen wird, stellt sich heraus, „dass das Material, das zur Verzierung des Wagens eingesetzt wurde, aus anderen Quellen stammt”. Die kaiserliche Kasse sei zum Zeitpunkt der Konfiguration des Fahrzeugs nicht flüssig gewesen, weshalb nun den öffentlichen Kassen und den Privatpersonen dasjenige zurückzuerstatten sei, was vorgestreckt worden sei” (S. 103, Relatio XX).
Amüsant und nicht ohne Gegenwartsbezug ein anderer Fall: Über das Amt des tribunus fori suarii (der Beamte war für die öffentliche Versorgung Roms mit Schweinefleisch zuständig) war ein Streit entbrannt; der Neuernannte bestand darauf, dass ihm das übertragene Amt rechtmäßig zustehe, der bisherige Amtsinhaber weigerte sich, die prestigeträchtige und staatlich besoldete Stelle aufzugeben (er berief sich auf ein seit Längerem nicht mehr angewandtes Gesetz, das für solcherlei Ämter gewisse Fristen vorsah). Symmachus schreibt, er sei der seit langer Zeit gepflegten Praxis gefolgt und habe denjenigen im Amt bestätigt, „der die eben erst erfolgte Beförderung durch Eure Erhabenheit vorweisen konnte” (Relatio XXII, S. 111). Ebenso weitsichtig wie pragmatisch fügt Symmachus hinzu: „Damit aber in Zukunft, sollte dies erforderlich sein, eine klare Anweisung jedes Zögern bei der Urteilsfindung beseitigt, habe ich beschlossen, einen kaiserlichen Erlass Eurer Göttlichkeit in der Frage zu erbitten, ob es rechtens sei, die neuen Tribune unter Einhaltung des Gesetzes hinzuhalten, oder ob man vielmehr der Ehrerbietung den Vorrang geben und die bisherigen Amtsinhaber gleich entfernen solle” (a.a.O.).
Auch andere Fälle geben einen Einblick in die Lebensbedingungen, etwa wenn Symmachus schreibt, dass die tägliche Versorgung mit Getreide keine Probleme verursache, lediglich die dürftigen Lieferungen von Öl brächten die Ernährung des Volkes ins Wanken. Der Kaiser solle eingreifen und die afrikanischen Beamten so schnell wie möglich veranlassen, den Speichern Roms diese Ware zu liefern (Relatio XXXV, S. 181).
In einem anderen Fall solle sich der Kaiser der Sache annehmen und es „nicht zulassen, dass ein Mann (sc. der in Epirus ansässige Senator Valerianus), der so viele Richter zum Besten gehalten hat, weiter die Grenzen des Zulässigen überschreitet” (Relatio XXXI, S. 159): ihn beeindrucke weder die Autorität von Reskripten noch die Strenge der Gesetze, auch nicht die Verbindlichkeit von Vereinbarungen oder die Ehrfurcht vor den Gerichten.
Symmachus war als Stadtpräfekt auch für das Schulwesen zuständig. So verweist er auf eine besonders wichtige Aufgabe des Staates, dass oft dafür gesorgt worden sei, dass zur Ausbildung adliger, junger Männer Philosophen aus Attika als Lehrer angeworben wurden. Nun gebe es einen gewissen Celsus, „den die Gelehrten mit Blick auf die Vergangenheit übereinstimmend auf etwa dieselbe Stufe wie Aristoteles stellen”, der zudem auf jedwede Entlohnung seiner Tätigkeit verzichte und deshalb würdig sei, in den Senatorenstand aufgenommen zu werden (Relatio V, S. 47). – Ob Symmachus mit seiner Empfehlung erfolgreich war, ist nicht bekannt.
Die Relationes des Quintus Aurelius Symmachus bieten eine Fülle an geschichtlichen Material, das für heutige Lateinlehrbücher aufbereitet werden sollte. Das schöne Tusculum-Bändchen von Alexandra Forst bietet dazu neue Anstöße.

Zwei plus zwei – „nach Adam Riese” sind das vier. Den Ausspruch „nach Adam Riese” habe ich noch von meiner Grundschulzeit im Ohr, er bedeutet noch heute, dass man richtig gerechnet hat.
Adam Ries (oft auch Adam Riese) lebte vor gut 500 Jahren und gilt als „Vater des modernen Rechnens”. Berühmt wurde er durch sein Buch „Rechnung auff der linihen“, das er 1518 veröffentlichte und das bis ins 17. Jahrhundert mindestens 120-mal aufgelegt wurde. Der Begriff „Linien“ im Buchtitel bezieht sich auf den Abakus als Rechenhilfsmittel Das Buch schrieb Ries bewusst nicht auf Latein, sondern auf Deutsch, weil es für das einfache Volk lesbar sein sollte – die Bürger sollten nicht von reichen Kaufleuten übers Ohr gehauen werden. Zudem ersetzte Ries die römischen Zahlen durch die zum Rechnen besser geeigneten arabischen Zahlen mit Dezimalsystem.
Seit 1992 erinnert in der Michaelistraße 48 in Erfurt ein dreiteiliges Ensemble mit Bronzebüste, Texttafel und einer in das Straßenpflaster eingelassenen Rechentafel an den Druck des Rechenbuchs von Adam Ries in Erfurt 1518. Christiane und Kai Brodersen erinnerten 2018 mit dem Nachdruck des ersten Rechenbuchs an dieses historische Datum und den berühmten Rechenmeister: Christiane und Kai Brodersen (Hrsg.): Adam Ries: Das erste Rechenbuch (Erfurt korr. Ausgabe 1525), Faksimile, Transkription und Übertragung, Kartoffeldruck-Verlag, Speyer 2018.
Sicherlich hat die Arbeit an diesem Buchprojekt die Beschäftigung mit einem anderen, in der Geschichte der angewandten Mathematik bedeutsamen Rechenbuch gefördert. So wie Adam Ries mit seinem Buch zur Vereinheitlichung der deutschen Sprache beigetragen hat, so hat dieser Autor lateinische Texte von Cicero, Ovid, Boethius und Augustinus ins Griechische übersetzt, die wiederum im Mittelalter als Lehrbücher für das Griechische im Westen Europas sehr populär waren. Dieser Autor mit Namen Maximos Planudes (* um 1255 in Nikomedia in Bithynien; † um 1330 in Konstantinopel) war ein byzantinischer Grammatiker und Theologe, ein produktiver Autor, von dem 40 Werke belegt sind, der den größten Teil seines Lebens in Konstantinopel verbracht hat. Planudes besaß wohl aus dem Kontakt zu Vertretern der röm. kath. Kirche in Konstantinopel ein bemerkenswertes Wissen über die lateinische Sprache in einer Zeit, in der Rom und Italien von den Byzantinern mit großer Ablehnung betrachtet wurden und die politische Lage äußerst angespannt war. 1327 wurde er als Botschafter nach Venedig geschickt, um gegen den Angriff der Venezianer auf die Genueser Niederlassung in Pera/Konstantinopel zu protestieren. Ein wichtiges Ergebnis dieser Reise wiederum war, dass Planudes mit seinen griechischen Übersetzungen lateinischer Autoren der griechischen Sprache und Literatur im Westen Europas den Weg bereitete.
Christiane und Kai Brodersen untersuchen in ihrer Ausgabe von Planudes' Rechenbuch allerdings nicht diesen sprachlichen Transfer, sondern zeigen, wie „das indische Rechnen” auf Griechisch nach Europa kam. Maximos Planudes präsentiert in seinem „Rechenbuch nach den Indern” didaktisch geschickt, wie man auch komplizierte mathematische Aufgaben einfach lösen kann. Dazu nutzt er die in der Antike unbekannte 'Null' und das erst damit ermöglichte Stellenwertsystem, das aus Indien über den arabischen Raum nach Europa gekommen war. Planudes zeigt für Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division und Wurzelziehen, wie man im Alltag, aber auch bei astronomischen Fragen diese seinerzeit neuartige Form des Rechnens einsetzen kann. Über vierzig erhaltene mittelalterliche Abschriften zeugen vom Erfolg des Werks, das zwar nicht das allererste war, in dem das „indische”Rechnen auf Griechisch vorgestellt wurde, doch sicher das einflussreichste Rechenbuch in seiner Zeit und darüber hinaus – wir rechnen noch heute so.
Planudes war vor allem als Lehrer und Schulleiter tätig und verfasste für den Unterricht geeignete grammatische Schriften, darunter eine, die als ”Dialog über Grammatik” zwischen einem Lehrer und einem Schüler gestaltet ist, und eine über die Syntax der Pronomina. Auch bei anderen für den Unterricht geeigneten Büchern erschien Planudes als Autor, offenbar stand der Name 'Planudes' später für gute Lehrbücher. In der dem griechischen und deutschen Text des Rechenbuchs vorangestellten Einführung geben die Herausgeber einen Einblick in Planudes' Werke; das Fazit lautet: Planudes war gleichsam zu einem „Markenzeichen” für Literatur geworden, die in der Schule nützlich sein konnte.
Äußerst spannend ist in der Einleitung der Abschnitt über Zahlzeichen und Stellenwertsysteme zu lesen (18ff.), denn die traditionelle griechische Zahlschrift nutzt die 24 Buchstaben des aus dem Phönizischen adaptierten griechischen Alphabets und dazu drei weitere, in der griechischen Schrift nicht verwendete Zeichen (zwei davon gingen als F und Q in unser Alphabet ein). Da die Zehner und Hunderter als einzelne Buchstaben geschrieben werden, kennt diese Zahlschrift keine Null. In der angewandten Mathematik wird die Methode des Rechnens auf Linien praktiziert, dabei werden Rechensteine auf oder zwischen Linien gelegt, das praktiziert Planudes genau so wie Adam Ries. Die Innovation, die Planudes in seinem Rechenbuch präsentiert, ist demgegenüber die Nutzung eines Stellenwertsystems mit neun Ziffern und der Null. Ein solches Dezimalsystem war seinerzeit aus Indien wohl über den ostarabischen Raum und Trapezunt nach Konstantinopel gelangt; es hatte sich allmählich auch weiter bis zu manchen Händlern und Spezialisten wie Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci (ca. 1170–1240), in den lateinischsprachigen Westen verbreitet.
Das Rechenbuch des Planudes wartet mit einer Reihe von Besonderheiten auf; so verwendet er die im byzantinischen Bereich bekannten ostarabischen Zahlzeichen, die Christiane und Kai Brodersen durch die uns vertrauten westarabischen Ziffernformen ersetzen (20f.). Zahlen werden als von rechts nach links geschrieben benannt (so wie wir heute noch ”neunundsechzig” sagen) (28); beim Wurzelziehen betrachtet man die Zahlen von links nach rechts und schreibt das Ergebnis darunter.
Was die Bedeutung des Rechenbuchs angeht, so betonen die Herausgeber, dass sie nicht auf seiner Originalität liege, sondern auf seiner geschickten didaktischen Präsentation. Es habe einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass sich das Rechnen im Dezimalsystem in Europa durchgesetzt hat: Die aus Indien über Arabien nach Konstantinopel kommende Idee der 'Null' wurde anwendbares Schulwissen.

Bücher haben ihre Geschichte. Ganz besonders die Appendix Vergiliana. Die für uns ältesten Textzeugen dieser Gedichte werden im Steiermärkischen Landesarchiv in Graz aufbewahrt. Sie stehen in schöner karolingischer Minuskelschrift auf einem Pergament-Doppelblatt, das um 1750 aus einem Vergil-Codex herausgetrennt und als schmucker Einband für ein Meisterbuch der Bäcker- und Müllergilde in Schladming diente. Erst 1953 gelang die Rettung und Sichtung dessen, was noch zu entziffern war (Einführung, S. 39).
Der Herausgeber dieses Tusculum-Bandes von 350 Seiten, Fabian Zogg, ist an der Universität Zürich tätig und arbeitet seit 2013 an einem Habilitationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Vergils Œuvre: Die Trias und ihre Appendices“ mit Forschungsaufenthalten in Berkeley 2015–16 und Oxford 2017; in zahlreichen Aufsätzen und Tagungsbeiträgen hat er Ergebnisse seiner Forschungen über die Appendix Vergiliana publiziert. In dieser Tusculum-Ausgabe sind alle Texte neu übersetzt und teilweise auch neu ediert. Neben Fabian Zogg, dem „der extrem schwierige Aetna-Text” zugewiesen wurde, haben Kai Brodersen, Niklas Holzberg, Regina Höschele, Thomas Gärtner, Kai Rupprecht und Sabine Seelentag die Neuübersetzungen besorgt.
Die Appendix Vergiliana, eine Gedichtsammlung, wurde Vergil zugeschrieben, den drei Werke, Bucolica, Georgica und Aeneis, zum berühmtesten römischen Dichter machten. Als Sprecher seiner Grabinschrift nennt der Verstorbene diese drei Opera als sein Lebenswerk, sein Kollege Ovid bestätigt die Dreizahl in den Amores (1,15,25). Vergil aber hat sein Erstlingswerk erst als Dreißigjähriger oder sogar etwas älterer Autor geschrieben; wäre es da nicht denkbar, das poetische Anfängerarbeiten existierten?
Als irgendwann im 1. Jh. n. Chr. in einem Buch mit dem Titel Catalepton ('Kleinigkeiten') 17 Gedichte erschienen, die ein anonymer Herausgeber im Epilog als elementa ('Anfängerarbeiten') Vergils präsentierte, dürften die Leser zunächst bereitwillig geglaubt haben, hier handle es sich um erste Fingerübungen des Dichters. Die literarisch Gebildeten unter ihnen nahmen freilich während der Lektüre wahr, dass die 'Kleinigkeiten' subtile intertextuelle Bezüge zu Bucolica, Georgica und Aeneis herstellen und schwerlich Produkte der Inspiration durch eine „unerfahrene Muse” (18,4: rudis Calliope) des Autors der drei Klassiker sind. Und ein vergleichbarer Befund ergab sich bei näherer Betrachtung anderer Dichtungen der frühen Kaiserzeit, die ihre Verfasser so konzipiert hatten, dass man sie auf den ersten Blick für Jugendwerke Vergils halten konnte.
Niklas Holzberg, durch zahlreiche Publikationen gerade auch zu den Werken Vergils und der ihm zugeschriebenen Dichtungen ein höchst kompetenter Fachmann, schildert in seinem ausführlichen Vorwort die Entstehung und Vergrößerung dieser Gedichtsammlung und ihre Erwähnungen in der antiken Literatur. Ein Bibliothekskatalog des elsässischen Klosters Murbach aus dem
9. Jahrhundert verzeichnet zuletzt neun Dichtungen (Dirae, Ciris, Culex, Catalepton, Aetna, Quid hoch novi est?, Copa, Moretum, Maecenas), die schließlich der humanistische Gelehrte Joseph Scaliger 1573 als Publii Vergilii Maronis Appendix edierte. Und seither werde diskutiert, ob man alle oder wenigstens einzelne Texte dem augusteischen Dichter zuschreiben dürfe oder nicht.
Um es vorweg zu nehmen, Niklas Holzberg bezieht eindeutig Position: „Jüngste Forschung zu allen neun Dichtungen, die sich nicht wie frühere Untersuchungen von biographistischem und ästhetischem Wunschdenken beeinflussen ließen, ergab überzeugend, dass Vergil keine von ihnen verfasst haben kann; davon gehe ich zusammen mit dem Herausgeber des vorliegenden Bandes und allen an seiner Entstehung beteiligten Übersetzerinnen und Übersetzern im Folgenden aus, verzichte mithin auf ein Referat der kontrovers geführten wissenschaftlichen Debatte” (Einführung, S. 14).
Holzberg räumt allerdings ein, dass die Dichtungen Dirae, Ciris, Culex und Catalepton bei Erstlektüre vergilischer Autorschaft als möglich erscheinen lassen, was dann die Vermutung nahe lege, „dass die anonymen Verfasser die Maske des Dichters von Bucolica, Georgica und Aeneis entweder als Fälscher tragen oder mit der Absicht, den Leser zu einem literarischen Rate- und Wiedererkennungsspiel einzuladen” (14). Alles spreche dafür, dass der Vergilius personatus mit seiner Identität als Autor spielt und auf die Fähigkeit seines Publikums zum Mitspielen hofft.
Auf den folgenden 25 Seiten seiner Einführung (15ff) betrachtet Niklas Holzberg alle von Scaliger in der Appendix Vergiliana vereinten Dichtungen in der Reihenfolge, in welcher der Murbacher Katalog sie nennt: Dirae, Ciris, Culex, Catalepton, Aetna, Quid hoch novi est?, Copa, Moretum, Maecenas. Zudem verfolgt er an einigen Beispielen deren Rezeption (39ff). Nach den neun Vergiliana folgen die beiden wichtigsten Vergil-Viten, die Sueton-Donat-Vita und die Servius-Vita: Sie ergänzen das in der Einführung zu Vergil Gesagte um das, was man sich im 4. Jh. über den berühmten Autor erzählte, und enthalten die ersten Listen von Dichtungen, die zur Zeit der Abfassung der Viten als Werke Vergils betrachtet werden konnten. Diese Listen bilden die ersten Zuschreibungen der später in der Appendix vereinten neun Dichtungen an Vergil. Hätte man darin nicht Werke Vergils gesehen, wären sie vermutlich nicht bis in die frühe Neuzeit immer wieder abgeschrieben worden.
Dabei gehören Gedichte wie der Culex und das Moretum, die als angebliche Jugendwerke Vergils stark rezipiert wurden, zu den interessantestenTexten der römischen Literatur überhaupt. Worum geht es in den Texten inhaltlich? Neben dem Catalepton ('Kleinigkeiten'), gemeint sind Gedichte nach alexandrinischem Vorbild, enthält der Band Dichtungen zu folgenden Themen: Dirae ('Verwünschungen') und Lydia, zwei bisweilen getrennte Dichtungen. Die Dirae verfluchen das enteignete Landgut des Dichters; Lydia (moderner Behelfstitel) ist die elegische Klage eines von seiner Geliebten Lydia getrennten Liebhabers. – Ciris, ein Kleinepos über Skylla, die ihr Heimatland Megara verrät und dafür in einen Seevogel (eben die ciris) verwandelt wird. – Culex ('Die Stechmücke'), ein teils parodistisches Epyllion, in dem eine von einem Hirten erschlagene Mücke diesem im Traum erscheint und von der Unterwelt berichtet. – Aetna ('Der Ätna'), ein Lehrgedicht über die Ursachen der Ausbrüche des Vulkans. – Quid hoc novi est? ('Was ist das Neues?'), ein Priapus-Gedicht. – Copa ('Die Wirtin'), ein Gedicht über eine syrische Wirtin, die mit ihrem Tanz Gäste in ihre Kneipe locken will, Niklas Holzberg charakterisiert das Gedicht als „Freudenhauswerbung mit gelehrten Anspielungen” (32). – Moretum ('Der Kräuterkäse'), ein Gedicht über den Beginn des Tagesablaufes eines italischen Bauern vom Aufstehen bis zum Aufbruch zur Feldarbeit, benannt nach dem Kräuterkäse oder eher Kräuterquark, den er sich als Vesper zubereitet, innerhalb der Appendix Vergiliana wohl der bekannteste Text. – Elegie Maecenas, Nachruf auf den Tod des reichen Etruskers Maecenas. – Das Buch beschließt ein Personenregister, alles für das unmittelbare Textverständnis Relevante steht in den Erläuterungen, Literaturhinweise finden sich zur Gedichtsammlung als Ganzer und zu den einzelnen Texten.
Niklas Holzberg gibt dem Buch noch einen Wunsch mit auf den Weg zu den Lesern: „Möge der vorliegende Band dazu beitragen, dass die neun ingenia, welche die Texte der Appendix Vergiliana hervorbrachten, künftig noch mehr leben als bisher” (42).

Porphyrios (* um 233 in Tyros; † zwischen 301 und 305 in Rom) war ein ausgesprochen produktiver und vielseitiger Philosoph der neuplatonischen Richtung und ein umfassend gebildeter Universalgelehrter. Er stammte aus einer angesehenen syrischen Familie und erhielt eine sorgfältige Erziehung. Zum Studium begab er sich nach Athen, wo er Mathematik, Grammatik und Rhetorik, vor allem aber Philosophie studierte. Den Namen Porphyrios („der Purpurne“) erhielt er von seinem Athener Lehrer Longinos. 263 übersiedelte er nach Rom, wo er sich der von Plotin begründeten Philosophenschule anschloss, dessen eifriger Anhänger er wurde und in dessen Auftrag er sich kritisch mit konkurrierenden Lehrern auseinandersetzte. Aus gesundheitlichen Gründen übersiedelte er 268 nach Lilybaeum auf Sizilien, kam später aber wieder nach Rom, wo er die Schule des inzwischen verstorbenen Plotin übernahm und dessen philosophischen Nachlass ordnete. Einer seiner bekanntesten Schüler war der ebenfalls aus Syrien stammende Iamblichos von Chalkis, prominent auch Chrysaorius, ein römischer Politiker und Senator, der zum berühmten Geschlecht der Symmachi gehörte; ihm widmete Porphyrios mehrere seiner Werke. Erst in hohem Alter heiratete Porphyrios Marcella, die Witwe eines Freundes, die sieben Kinder hatte. In den Anfangsjahren des vierten nachchristlichen Jahrhunderts ist er in Rom gestorben.
Nach dem Studium in Marburg und München war der Verfasser dieses Buchs, Hans Günter Zekl (1939–2016), ab 1972 als Gymnasiallehrer tätig, aber auch als Übersetzer und Interpret philosophischer Texte der griechischen und römischen Antike sowie der frühen Neuzeit. Über 20 Titel sind in der Philosophischen Bibliothek bei Felix Meiner in Hamburg und im Verlag Königshausen & Neumann in Würzburg erschienen. Der gelehrte Porphyrios scheint Hans Günter Zekl nach der Beschäftigung in seiner Dissertation nicht mehr losgelassen zu haben; Jahrzehnte später hat er sich vorgenommen, eine interessierte Leserschaft mit dem neuplatonischen Denken des Porphyrios bekannt zu machen. Else Zekl, ebenfalls studierte Altphilologin und Übersetzerin, hat die Vorarbeiten und Texte ihres Mannes nach seinem Tod durchgesehen und herausgegeben. Aus der größeren Zahl von erhaltenen Werken haben sich die beiden Übersetzer Hans Günter und Else Zekl vier bedeutsame Titel ausgewählt und ein Buch von 300 Seiten zusammengestellt. An erster Stelle die Schrift „Darüber dass man kein Fleisch essen soll”, in Briefform verfasst; Peri apochés empsýchon bzw. De abstinentia wirbt für die bewusste Lebensweise eines konsequenten Vegetarismus. Der Autor vertritt einen ethisch begründeten und asketisch motivierten Vegetarismus und kritisiert Tieropfer (79ff.), die einer philosophisch aufgefassten Religionsausübung nicht angemessen seien. Für eine philosophische Lebensweise sei eine fleischlose Ernährung erforderlich. Die Verdauung der Fleischnahrung belaste überdies den Körper und Beschaffung wie Zubereitung lenke von den wichtigen Aufgaben des Philosophen ab. Es handle sich um einen Luxus, der mit der philosophischen Genügsamkeit unvereinbar sei. Im vierten Buch (165ff) gibt er Einblick in seine Auffassung von der Zivilisationsgeschichte; es behandelt die Geschichte der Ernährung bei den Griechen sowie Ernährungssitten bei verschiedenen Völkern.
Als zweites folgt die „Lebensbeschreibung des Pythagoras” (205ff.), ein Teil des ersten Buchs seiner „Philosophiegeschichte”, die offenkundig schon früh separat veröffentlicht wurde. Gemeint ist der Mathematiker, der nicht nur den nach ihm benannten berühmten Satz über die rechtwinkligen Dreiecke entwickelt, sondern auch als Philosoph und Vegetarier Grundlegendes weitergegeben hat. Die Schrift weist zahlreiche legendenhafte Ausschmückungen auf, etwa Kap. 24/S. 212, wo er einem Hirten, dessen Stier sich auch über grüne Bohnen hermachte, den Rat gab, „er möge dem Stier doch sagen, er solle die Bohnen liegenlassen. Als der Hirte ihn daraufhin verspottete und sagte, er könne nicht 'stierisch' sprechen, da trat er an den Stier heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin hielt es ihn nicht nur zu diesem Zeitpunkt von den Bohnen fern, sondern er rührte auch in der Folge nie wieder Bohnen an. Er wurde beim Heiligtum der Hera in Tarent alt und blieb da eine ungeheuer lange Zeit am Leben” (212).
Dritter Text der Auswahl ist jener „Über die Nymphenhöhle bei Homer” (240ff.), der sich auf die Nymphengrotte auf Ithaka in der Odyssee Homers bezieht, die eine tiefere, verschlüsselte Bedeutung hat. Bei Homer ist die Grotte der Ort, wo Odysseus seine Heimat Ithaka erreicht. Für Porphyrios symbolisiert sie die sinnlich wahrnehmbare, materielle Welt, in welche die menschliche Seele hinabgestiegen ist. Nach Überzeugung von Karin Alt, Altphilologin an der FUB, ist der Text ein Frühwerk des Porphyrios aus der Zeit, bevor er Schüler Plotins wurde.
Schließlich folgt „An Markella, seine Frau” (272ff.). In dieser in Briefform verfassten protreptischen Schrift beschreibt er die auf neuplatonischer Einstellung gründende Lebensweise. Er weist darauf hin, dass die Philosophie den Ausweg aus der Leidhaftigkeit des irdischen Daseins zeige, betont aber auch, dass der philosophische Erlösungsweg anspruchsvoll und anstrengend sei.

Bienen haben in den vergangenen Jahren jede Menge Schlagzeilen gemacht und Sympathisanten gefunden. Ihre Gefährdung durch Chemie in der Umwelt, ihre Anfälligkeit für Krankheiten, ihr mögliches Aussterben – all das ist vielen Menschen bewusst geworden. Der Wildbiene fehlt der Lebensraum, die Honigbiene ist ein überzüchtetes leistungsorientiertes Haus- und Nutztier, dem Parasiten zu schaffen machen. Das Thema Bienen hat aber nicht nur Konjunktur aus ökologischen und agrarbiologischen Gründen: Bienen gehören zu den intelligentesten Nutztieren der Erde. Bienen werden auch bei politischen und wirtschaftlichen Debatten ins Feld geführt: Bienenvölker seien ein wunderbares Beispiel für einen radikalen Feminismus, denn der Bienenstaat sei ein reiner Frauenstaat, der hervorragend funktioniere, alle Arbeiter sind Weibchen. Als das erfolgreichste Unternehmen der Welt demonstrierten die Bienen, dass ein Gemeinwesen auf Dauer nur bestehen könne, wenn alle Beteiligten dabei gewinnen würden. Beispielgebend fänden sie in ein Gleichgewicht des Nötigen und zeigten eine Alternative zu unserem Wachstumsstreben. Der Mut eines Bienenschwarms könne ansteckend wirken: Wenn ein Schwarm ausziehe, ließe er alles zurück und werde einzig vom Vertrauen in die Fülle der Welt getragen. Eine Ermutigung für alle, die aufbrechen wollten. Die Bienenkönigin sei dabei keine absolute Herrscherin. Im Gegenteil: Bienen entschieden alle gemeinsam als Schwarm, sie erforschten kollektiv einen Sachverhalt und debattierten lebhaft, um letztlich einen Konsens zu finden.
Auf der Suche nach der idealen Gemeinschaft der Menschen stieß der Dominikaner Thomas von Cantimpré im 13. Jahrhundert auf die Bienen. In seinem lateinischen „Bienenbuch“ (Bonum universale de apibus) beschrieb er am Beispiel der Bienen Hierarchien, Vorzüge und Abgründe des sozialen Miteinanders. Angereichert mit unterhaltsamen Anekdoten aus dem mittelalterlichen Lebensalltag sollte sein Handbuch die Arbeit der Dominikaner als Prediger und Lehrmeister unterstützen. „Von Bienen lernen“ – diese Idee fand schon im Mittelalter großes Interesse, und so wurde das „Bienenbuch“ im Laufe der Jahrhunderte über einhundert Mal handschriftlich kopiert. Als Digitalisat findet man eine Handschrift des Bienenbuchs auf der Seite der Universitäts- und Landesbibliothek der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf (http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/urn/urn:nbn:de:hbz:061:1-440818). Erstmals erscheint das „Bienenbuch“ nun in einer kritisch kommentierten Edition (insgesamt 1616 Seiten) mit deutscher Übersetzung sowie einer Analyse von Werk und Überlieferungsgeschichte.
Thomas von Cantimpré, auch Thomas Cantimpratensis, Thomas Brabantinus, oder Thomas van Bellinghen (*1201 in Bellinghem; †1270 oder 1272), wurde im Alter von fünf Jahren aufgrund eines Gelübdes seines Vaters in ein Kloster in Lüttich gegeben. Mit sechzehn Jahren wurde er, wohl von den wortgewaltigen Predigten Jakobs von Vity veranlasst, Kanonikus in der Augustinerabtei zu Cantimpré bei Cambrai. Um 1232 wechselte er zum Orden der Dominikaner in Löwen. In Cambrai, möglicherweise an der dortigen Kathedralschule, durchlief er eine mehrjährige Schulausbildung. Bald darauf studierte er in Köln bei Albertus Magnus. Von 1237 bis 1240 hielt er sich im Konvent St. Jacques in Paris auf (zur Biographie des Autors Thomas v. C. vgl. Burkhardt 15-38). 1241 beendete er sein bedeutendstes Werk Liber de natura rerum, eine umfassende Enzyklopädie des damaligen naturkundlichen Wissens für Geistliche, zu der er u.a. Werke von Aristoteles, Plinius und Ambrosius als Quellen benutzte, an dem er seit etwa 1225 gearbeitet hatte. 1246 wurde Thomas Subprior und Lektor in Löwen. In seinen letzten Lebensjahren widmete er sich vor allem der Seelsorge.
Sein letztes und vielbeachtetes Buch war das Bonum universale de apibus (zwischen 1258 und 1263 vollendet), in dem er am Beispiel des Bienenstaates das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen untersucht (dazu v.a. das Kapitel Narrative Funktion, Bienenallegorie und Gemeinschaftsentwurf des Bonum universale de apibus, 39–106). Sehr empfehlenswert zur Lektüre die Abschnitte Exemplarisches Erzählen im 13. Jahrhundert (40ff.), Bienen und Ameisen als Sinnbild der vollkommenen Gemeinschaft (51ff.) Von Bienen lernen: Antike Vorlagen und methodische Annäherungen (53ff.) und Das große Krabbeln? Überlegungen zur mittelalterlichen Bienen- und Ameisenfaszination (65ff.).
In zwei weiteren sehr sorgfältig konzipierten großen Kapiteln geht die Autorin der Rezeptionsgeschichte nach: Das Bonum universale de apibus im Spiegel seiner Handschriften (107–164) und definiert Konzept und Richtlinien für die Edition des Textes (167–221). In zahlreichen Anhängen, 223–418, und Registern, 417–512, werden Ergebnisse zusammengetragen, so ein Repertorium lateinischer und volkssprachlicher Handschriften, ein Verzeichnis der für die Edition gesichteten Handschriften und ihrer Siglen, Dendrogramme auf der Grundlage von 51 Handschriften, ein Bibelstellenverzeichnis sowie eine Auflistung des Inhalts der Kapitel und Unterkapitel des 'Bienenbuchs'. Das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst an die 60 Seiten, ausführliche Orts- und Namensregister erschließen die beiden Bände.
„Im 'Bienenbuch' fungieren der Blick auf Bienen und ihr gesellschaftliches Zusammenleben als narratives 'Leitmotiv' und entsprechend sind die Kapitel im Bienenbuch beinahe durchgängig recht systematisch gestaltet. Jedes der 82 Kapitel wird mit einer thesenhaften Aussage zur Organisation, zu Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Bienen eröffnet, mehrheitlich sind diese Thesen dem 'Bienenkapitel' von Thomas' Naturenzyklopädie entnommen.”
Ausdrücklich verdeutlicht Thomas jedoch im Widmungsbrief, dass er mit dem 'Bienenbuch' keinen naturkundlichen Traktat zu verfassen, sondern sein Kapitel aus dem 'Buch über die Natur der Dinge' „einfach darzustellen und moralisch auszulegen gedachte” (capitulum exponere simpliciter et moralizare praesumens). In der Regel schließt deshalb an das Leitmotiv eine bisweilen recht kurios anmutende Kombination aus unterschiedlichen Exempeln, legendenhaften Heiligenerzählungen, Bibel- und Kirchenväterzitaten oder Paraphrasen klassischer Autoren der Antike an”(73f). – „Bei aller erkennbaren Programmatik und Intentionalität lässt sich das 'Bienenbuch' vor allem als Spiegel alltäglicher und scheinbar marginaler Lebenswelten des 13. Jahrhunderts lesen – als ein Panorama, das dem Zusammenwirken von Mensch und Natur im Kleinen ebenso Raum bot wie der Dynamik großer politischer oder religiöser Entwicklungen und schließlich dem Spektrum zeitgenössischer Wahrnehmungen diverser religiöser Lebensformen”(74f.).