Kranzdorf, Anna: Ausleseinstrument, Denkschule und Muttersprache des Abendlandes. Debatten um den Lateinunterricht in Deutschland 1920-1980, (Wertewandel im 20. Jahrhundert, Band 5, hrsg. von Andreas Rödder), De Gruyter / Oldenbourg, Berlin / Boston 2018, ISBN 978-3-11-042602-1, 64,95 €

Die vorliegende Arbeit wurde im September 2016 vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen (Erstgutachter: Andreas Rödder, Zweitgutachterin: Christine Walde). Methodisch inspiriert ist sie von der Mainzer Historischen Wertewandelforschung, die sich durch lange diachrone Perspektiven, das Arbeiten mit Fallbeispielen und einer diskursanalytisch-qualifizierenden Vorgehensweise definiert. Anna Kranzdorf studierte von 2006 bis 2011 Geschichte und Latein. Von 2011 bis 2016 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte. 2014 war sie kurzzeitig Stipendiatin am Deutschen Historischen Institut in London. Seit Juli 2016 hat sie die Aufgabe der Persönlichen Referentin des Präsidenten der Uni Mainz inne.
Der Titel „Ausleseinstrument, Denkschule und Muttersprache des Abendlandes. Debatten um den Lateinunterricht in Deutschland 1920–1980“ nennt die zentralen Argumentationsebenen. Es handelt sich also nicht um eine fachdidaktische Arbeit. Die Autorin geht vielmehr Fragen nach wie: „Wie und warum kamen Veränderungen in Hinblick auf den Lateinunterricht zustande? Handelt es sich dabei um Spezifika des Lateinunterrichts oder sind es übergreifende Mechanismen, die sich auf die Entwicklungen im höheren Bildungswesen übertragen lassen? Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche Leitvorstellungen?“ (S. 13). Die ausgesuchten Fallbeispiele (etwa der Tutzinger Maturitätskatalog aus den 1950er Jahren, S. 247ff. oder der „Kampf um das humanistische Bildungsideal“, S. 273 ff, oder das Hamburger Abkommen von 1964, S. 296 ff. oder der Strukturplan und die Oberstufenreform von 1972, S. 306 ff.) werden unter folgenden Leitfragen untersucht: „Welche Akteure versuchen (mit welchen Argumenten) Einfluss auf die Diskussion zu nehmen? Wer kann sich durchsetzen? Lassen sich Mechanismen der Auseinandersetzung feststellen? Mit welchen Argumenten wird dabei für oder gegen den altsprachlichen Unterricht argumentiert“ (S. 21). Dieser historische Ansatz, die Fülle der verarbeiteten Archivquellen (399ff) sowie der publizierten Quellen (402 ff.) und der Fachliteratur (414–434) ergeben einen ergiebigen Befund. Auf nahezu jeder Seite stößt der Leser auf Momente, die den Lateinunterricht mehr oder weniger geprägt haben oder noch wesentlich prägen, die nachwirken, die sein Erscheinungsbild bestimmen oder denen man gerne entkommen möchte. Als wichtiger Akteur wird auch der DAV in den Blick genommen (Gründungsversammlung am 6. April 1925) und kritisch gewürdigt (98–114. 173. 331–365 et passim).
Die Untersuchung wurde über einen Zeitraum von 60 Jahren, von 1920 bis 1980, ausgedehnt, „um Kontinuitäten und Wandel in Bezug auf die Rolle des Lateinunterrichts aufzeigen zu können. Die Untersuchung von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die 1970-er Jahre der Bundesrepublik ist besonders reizvoll, da drei unterschiedliche politische Systeme betrachtet werden. Trotz sich wandelnder gesellschaftlicher Leitbilder und trotz unterschiedlicher Akteure blieben das Gymnasium und der altsprachliche Unterricht bestehen“ (S. 16). Eine Konzentration auf wenige Länder war allerdings unumgänglich, da Bildungspolitik traditionell Sache der Länder ist und eine enzyklopädische Vollständigkeit zur Entwicklung des altsprachlichen Unterrichts den Rahmen gesprengt hätte, Zwar soll einem gesamtdeutschen Diskurs nachgespürt werden, exemplarisch dafür aber werden die Länder Preußen bzw. Nordrhein-Westfalen und Bayern herangezogen (S. 18). Eine weitere Vergleichsperspektive ist der Blick in das westeuropäische Ausland: Mit dem Blick auf England sollte der Blick auf die deutschen Spezifika geschärft werden (vgl. 19ff.). In den Blick kommen dabei auch die wichtigsten Pressure Groups für den altsprachlichen Unterricht, die Lehrerverbände und seit seiner Gründung 1925 der Deutsche Altphilologenverband, daneben als weitere Akteure die Kirchen, Universitäten und die Ministerialbürokratie; wenigstens exemplarisch begegnen auch die Positionen des Allgemeinen Deutschen Neuphilologenverbands und der Vertreter des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts.
Kernstück der Arbeit ist eine hermeneutische Quellenanalyse auf drei Ebenen, der politisch-institutionellen, der fachwissenschaftlich-didak-tischen und der lebensweltlich-praktischen. Dazu
war ein intensives Aktenstudium in vielen Archiven und Ministerien erforderlich (S. 24f.). Eine wichtige Rolle spielen auch die Auswertung von Zeitschriften verschiedener Lehrerverbände sowie der Publikationen von Einzelpersonen, die mit ihren Schriften Einfluss auf den altsprachlichen Unterricht oder das höhere Schulwesen genommen haben, etwa Werner Jaeger, Josef Schnippenkötter, Wilhelm Flitner, Theodor Litt, Adolf Bohlen, Hellmut Becker oder Hartmut von Hentig (vgl. 3.3. Experten als neue Akteure und der Sieg der Reformpädagogen, 311 ff.).
Anna Kranzdorf gibt im Rahmen der Einleitung einen knappen Überblick über den Forschungsstand. Dabei betont sie, dass auch die ausführlichen Analysen fachdidaktischer Konzepte, Lek-
türekanons oder Lehrbücher für Ihre Arbeit eine wichtige Grundlage darstellen. „Für die geschicht-liche Entwicklung des altsprachlichen Schulunterrichts und die Entwicklung seiner Didaktik sind vor allem die Arbeiten der beiden Berliner Altphilologen und altsprachlichen Didaktiker Andreas Fritsch und Stefan Kipf herauszustellen“ (S. 26). Daneben nennt sie u.a. auch die unterhaltsam und anregend zu lesenden Gesamtdarstellungen über die Geschichte der lateinischen Sprache von Jürgen Leonhardt und Wilfried Stroh – moniert allerdings etwas überkritisch, solche Darstellungen dienten eben auch zur eigenen beruflichen Legitimierung und dem Nachweis des Existenzrechts des eigenen Fachs (S. 27).
In drei großen Kapiteln „Die Weimarer Republik“ (29–149), „Die Zeit des Nationalsozialismus“ (151–214) und „Die Bundesrepublik Deutschland“
(215–389) werden die Entwicklungen und die Einwirkungen auf Schule und altsprachlichen Unterricht untersucht und die Abläufe dargestellt, zum Schluss jedes Kapitels jeweils in einem Zwischenfazit auf den Punkt gebracht. In einem gesonderten Fazit (391–398) stellt sie die These auf, dass man die Geschichte des altsprachlichen Unterrichts im Allgemeinen und des Lateinunterrichts im Besonderen als „Verlustgeschichte“ erzählen könne (er habe über die Jahrzehnte zwei Drittel seiner Wochenstunden eingebüßt und sei vom unausweichlichen Abiturfach zum Wahlfach auf der gymnasialen Oberstufe „degradiert“ worden). „Allerdings kann man diese Geschichte in Deutschland auch als Erfolgsgeschichte erzählen: Gerade das Fach Latein konnte sich über viele politische und kulturelle Umbrüche hinweg als festes Unterrichtsfach an deutschen Schulen halten und ist bis heute diejenige Fremdsprache, die Schüler am dritthäufigsten lernen. Gerade im Vergleich zu England, wo die alten Sprachen als Fremdsprache kein Bestandteil des offiziellen Lehrplans mehr sind, tritt diese Besonderheit hervor“ (391).
Die Autorin konstatiert: „Diskursiv machte sich ein permanentes Krisenempfinden bezüglich des altsprachlichen Unterrichts sowie des Gymnasiums im Allgemeinen bemerkbar. Allerdings sorgte diese Kontinuität des Krisenempfindens dafür, dass umtriebige und kreative Fachdidaktiker eine fast stetige Erneuerung des altsprachlichen Unterrichts betrieben. Auf Kritik konnte daher meist souverän reagiert werden“ (392). Weiter: „Der altsprachliche Unterricht erwies sich in seiner Selbstlegitimation als äußerst flexibel. Zu seiner Rechtfertigung wurde eine Vielzahl von Argumenten angeführt, die, je nachdem welche gesellschaftliche Leitvorstellung gerade vorherrschend war, fast beliebig einmal stärker, einmal schwächer betont werden konnten. In der Weimarer Republik war dabei das Leitbild des „Nationalen“ dominant, dem sich die Fremdsprache Latein dahingehend anpasste, dass jede Lateinstunde auch eine Deutschstunde sei, weil die Beschäftigung mit der antiken Sprache auch die Muttersprache schule. Selbst für die rassisch-völkischen „Ideale“ des Nationalsozialismus fand
vor allem der Lateinunterricht passende Argumentationsstrategien. Von der Blutsverwandtschaft der Griechen mit den Germanen bis hin zur disziplinierende Wirkung des Lateinunterrichts wurden Argumente angeführt, die aus dem idealistisch-intellektuellen Gymnasialfach ein strammes nationalsozialistisches Erziehungsinstrument machten. In der Nachkriegszeit erhielt die lateinische Sprache seine ideelle Bedeutung als „Spenderin ewig gültiger Werte“ zurück und wurde als „Muttersprache des Abendlandes“ das Fach der neuen gesellschaftlichen Leitvorstellung, des „Christlichen Humanismus“. Eine in diesem Geist erzogene Elite sollte die junge Bundesrepublik vor erneuter Barbarei bewahren. Kaum 15 Jahre später machte das Fach Latein eine weitere argumentative Metamorphose durch: Chancengleichheit und Pluralismus als neue gesellschaftliche Leitvorstellungen bescherten dem Lateinunterricht seine größte Sinnkrise und zwangen seine Vertreter zu einer grundlegenden Neuaufstellung. Es geriet nämlich ein Argument in Verruf, das von den 1920-er bis in die 1950-er Jahre immer wieder für den Lateinunterricht bemüht worden war: das Argument, dass das anspruchsvolle Fach Latein ein hervorragendes Instrument zur Auslese sei. … Aber auch hier hatten die Altphilologen neue Argumente bereit. Latein sei genau das richtige Fach für die „gymnasialferne “Bevölkerungsschicht“, weil es „die milieubedingten Sprachbarrieren“ abbauen helfe. Diese bewusste Imageänderung des Lateinunterrichts stellte einen wirklichen Bruch dar. … Wichtig ist darüber hinaus, dass Latein- und Griechischunterricht fremdsprachlicher Unterricht blieb. Zwar wurde die kulturkundliche Komponente im Unterricht gestärkt, aber die Fähigkeit, aus der fremden Sprache zu übersetzen, blieb das eigentliche Ziel des Unterrichts. Die Vorstellung, dass das Sprachen Erlernen auch an Strukturen und nicht nur durch Nachahmen möglich und sinnvoll sei, war dabei maßgeblich an die Theorie der formalen Bildung geknüpft. Eine Bildungstheorie, die auf Wilhelm von Humboldt zurückzuführen ist und vor allem in Deutschland trotz vielerlei Kritik gerade aus Amerika immer wieder von deutschen Altphilologen erneuert und angepasst wurde“ (393ff).
Die flüssig geschriebene, faktenreiche, übersichtlich gegliederte Arbeit von Anna Kranzdorf analysiert, wie Veränderungen und Reformen im Bildungswesen zustande kamen, welche Akteure maßgeblich beteiligt waren und welche Rolle dabei gesellschaftliche Werte einnahmen. Der Wandel des Unterrichtsfach Latein über die Jahrzehnte wird lebendig und gut nachvollziehbar dargestellt. Anna Kranzdorf reiht die Monita der Kritiker des Lateinunterrichts auf, beschreibt den Wandel des Fachs und erzählt durchaus eine Erfolgsgeschichte der Alten Sprachen, die sich während all der tiefgreifenden Umwälzungen des 20. Jahrhunderts immer wieder von Neuem den veränderten Bedingungen anzupassen, Reformen zu realisieren und sich so in der deutschen Bildungslandschaft zu behaupten wussten. Aus der vorliegenden Untersuchung wird klar, dass dies vor allem der Reformbereitschaft der betroffenen Lehrpersonen, namentlich auch im DAV, zu verdanken ist. Die Arbeit schließt nahtlos an das Buch Latein und Europa. Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland von Karl dem Großen bis Wilhelm II. (Köln 2001) von Manfred Fuhrmann an, als Fortsetzung empfiehlt sich in gewisser Weise das Buch von Stefan Kipf: Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung, didaktische Konzepte und methodische Grundfragen von der Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts (Bamberg 2006), obgleich es schon spannend gewesen wäre, hätte Anna Kranzdorf den zeitlichen Rahmen ihrer Forschungsarbeit bis in die Gegenwart ausgedehnt.
Beyer, Andrea: Das Lateinlehrbuch aus fachdidaktischer Perspektive. Theorie – Analyse – Konzeption, Universitätsverlag Winter, Heidelberg (Sprachwissenschaftliche Studienbücher, 1. Abteilung), 419 Seiten, 85 Abb., 44 Tab. 2018, ISBN: 978-3-8253-6971-2, 39,00 €

Können Sie sich das ideale Lateinlehrbuch vorstellen? Haben Sie schon einmal mit einem Lehrbuch gearbeitet, das Ihrem Ideal nahe kam? – In allen meinen in 35 Jahren benutzten Lehrbüchern quasi den maximalen Grad an Perfektion entdecken zu wollen, kam mir nie in den Sinn, Meine Neugier richtete sich auf die Auswahl solcher Lesetexte, die ich selbst originell und interessant fand (so dass es sich lohnt, dafür Lebenszeit zu investieren) und die natürlich und primär jungen Leuten etwas sagen sollen, auf geeignete Abbildungen, attraktive Informationstexte, auf genügend Übungsmaterial unterschiedlichster Art, auf die für meine Klientel passende Dosis an Lernvokabeln und Grammatikpensen und nicht zuletzt auf eine individuelle Handschrift des Herausgebers. Meine Erfahrung ist, dass ich nach sieben Jahren, nach denen ich vielfach das Lehrbuch wechselte, meist den Eindruck hatte und es bedauerte, immer noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, welche die Autoren eingebaut hatten. Dennoch war der Neuanfang mit einem Titel der jeweils jüngsten Lehrbuchgeneration regelmäßig inspirierend und belebend, weil er Neues bot und mich veranlasste, die Rolle dessen, der die Lern- und Übungsangebote, neue Themen und Texte der jeweiligen neuen Generation von Schülerinnen und Schülern präsentiert und schmackhaft macht, engagiert zu übernehmen. Varietas delectat!
Kollegen waren da bisweilen anderer Meinung, sie verwiesen auf die mühsam erstellten Klassenarbeiten, Tests und bewährte Arbeitsbögen, die sich in ihrem PC über die Jahre angesammelt hatten und erkannten im neuen Lehrbuch immer wieder mal Schwächen der unterschiedlichsten Art, die ihnen den Umstieg verleideten, tendierten also wie in anderen Fächern auch zum status quo. Unstrittig ist, dass ein gutes Lateinlehrbuch für einen über mehrere Jahre voranschreitenden Unterricht (der häufig auch schon nach der Lehrbuchphase endet) ein unverzichtbares und in vieler Hinsicht entscheidendes Instrument ist.
Grundlegend sind denn auch die Fragen, die Andrea Beyer in ihrer Berliner Dissertation „Das Lateinlehrbuch aus fachdidaktischer Perspektive“ stellt: „Wie sind Lateinlehrbücher strukturiert? Erfüllen sie ihre Funktion? Berücksichtigen sie die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Konzepte, um ihrer Rolle als Leitmedium des Lateinunterrichts gerecht zu werden?“
Ich beginne ganz hinten in dem recht umfangreichen (und für mich im Bereich Lehrbuchtheorie und Kompetenzorientierung sehr anspruchsvollen) Buch: auf Seite 407–419 findet man in einem Anhang „Qualitätsstandards von Lehrwerken und Lehrbüchern“ inclusive solcher für elektronische Komponenten (410f). Sehr umfassend ausgefallen, hilfreich und positiv zu bewerten ist namentlich der Teil V: Schlussfolgerungen.(321-378). Im ersten Teil werden dort die Voraussetzungen dargestellt, die als äußere, d.h. in Form von marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie (schul-) politischen Vorgaben, und innere Einflüsse, d.h. fachspezifische Anforderungen, auf die Konzeption von Lateinlehrbüchern einwirken. Im zweiten Kapitel von Teil V schließt Andrea Beyer eine Darlegung der Theorie zur Konzeption eines Lateinlehrbuches an (zentrale Bestandteile, Strukturierung, Qualitätskriterien) und diskutiert die Frage, über welche Fähigkeiten Entwickler von Lateinlehrbüchern verfügen sollten. In einem weiteren Teil stellt sie eine Handreichung vor (Abschnitt 7.3, S. 360-375) mit ausführlich formulierten Qualitätsstandards, die bei der Konzeption eines Lateinlehrbuchs beachtet werden sollten. In einem letzten Abschnitt diskutiert die Autorin die Frage, ob die entwickelte lateinspezifische Lehrbuchtheorie auf andere Schulfächer übertragen werden und welche Bedeutung dieser Arbeit für die zukünftige Entwicklung von Schulbüchern zukommen kann.
Bei all diesen Schlussfolgerungen bleibt die Autorin auf dem Boden der steinigen Wirklichkeit und konzediert, dass sich die Macher der Lateinlehrbücher durchaus viel Mühe geben, um moderne, d.h. den vielseitigen Anforderungen entsprechende Lateinbücher zu entwickeln. Sie registriert auch positiv, dass es auf dem Markt eine erfreuliche Anzahl solcher (neuer) Titel gibt, auch wenn die Zahl der „Lateinverlage“ geringer geworden ist.
Angesichts der Komplexität der Kriterien für ein Lateinlehrbuch heute spricht Andrea Beyer sich letztlich für eine personelle Aufstockung der Lehrbuchredaktionen aus – mit folgender Begründung: „Auch wenn die Einzelergebnisse im Verlag zusammengeführt, redigiert und auf Konformität mit den Rahmenlehrplänen geprüft werden, so fehlen doch offensichtlich eine interdisziplinäre, fachwissenschaftliche, fachdidaktische und/oder bildungswissenschaftliche Betreuung und einheitliche, objektiv überprüfbare Vorgaben, die über etwaige inhaltliche Absprachen und Festlegung der Seitenstruktur hinausgehen. Dementsprechend werden die Mitarbeiter an einem neuen Lateinbuch auf das zurückgreifen, was sie kennen und erfolgreich im Unterricht einsetzen, so dass sich aus dieser auf Erfahrung beruhenden Tradition heraus ein Kanon der Inhalte, Übungen und Methoden manifestiert. Den Entwicklern fehlen also Zeit, Wissen und Gelegenheit, grundsätzlich vorhandene Strukturen in der Form in Frage zu stellen, ob neuere Entwicklungen, wie beispielsweise die Kompetenzorientierung, mit dem Vermittlungskonzept eines Lehrbuches kompatibel sind. So entsteht der Eindruck, dass Lateinbücher quasi nach jeder (schulpolitischen) Vorgabe 'repariert' werden und ihnen keine theoretischen Konzepte zugrunde liegen“ (S. 319).
Das klingt im Prinzip plausibel, spontan fällt mir dazu nur ein, dass solche Praxis leicht das Verlagsbudget sprengen könnte, dass – wie man so sagt – „(zu) viele Köche den Brei verderben (versalzen)“ (das sagt etwa eine Untersuchung aus den USA über die Qualität von Wikipedia-Einträgen), entscheidender vielleicht noch, dass die mit einem (radikal neuen) Lehrbuch arbeitenden Lehrkräfte auch fachdidaktisch und fachwissenschaftlich mitgenommen sein wollen. Vielleicht ist ja eine gewisse Reserve gegenüber der schulpolitischen Innovationswut angebracht, mitunter haben sog. Innovationen ihren Zenit längst überschritten, wenn sie via Lehrbuch ihren Weg in die Schule gefunden haben, oder sind bereits wieder revidiert. Ein Blick in die sehr lange Geschichte des lateinischen Lehrbuchs könnte wohl auch zeigen, dass nicht alles neu ist, was als neu deklariert wird, und dass im Blick zurück manches Zukunftsträchtige zu entdecken wäre. Aber das ist nicht die Intention der Autorin und natürlich finde ich die Idee von Andrea Beyer zur Zusammensetzung einer Lehrbuchredaktion schlüssig, man sollte sie durchaus in Reinkultur ausprobieren (die 1980 erschienene Grammatik von Hans-Joachim Glücklich, Rainer Nickel und Peter Petersen, Interpretatio. Neue Lateinische Textgrammatik, Verlag Ploetz, Freiburg/Würzburg halte ich im Ergebnis für solch ein bemerkenswertes Produkt, meine Lieblingsgrammatik! Ob sie in größerem Maß Eingang in den Unterrichtsalltag gefunden hat, kann ich nicht beurteilen.). Nach Auskunft von Maren Saiko (Verlag C.C. Buchner) würden überdies an Lehrbüchern ohnehin „oft bis zu 20–25 Personen oder mehr arbeiten: Praktiker aus Schule und anderen Bildungseinrichtungen, Lektoren, Textredakteure, Bildredakteure, Grafiker“ (319, Anm. 773), sicherlich auch Programmierer und IT-Spezialisten. Ich persönlich würde es allerdings sehr ungern sehen, wenn erfahrene Praktiker aus dem Schulbetrieb ersetzt würden durch ein Heer von Spezialisten unterschiedlichster Provenienz.
Erwähnt wurde schon, dass Andrea Beyer im Teil V: Schlussfolgerungen mit diversen Katalogen von Qualitätsstandards aufwartet, die freilich nicht hierarchisiert und in ihrer Wichtigkeit gewichtet sind, was ja auch gar nicht ginge. Wie kommt die Autorin zu diesen sehr umfassenden Schlussfolgerungen? Durch ein sehr ambitioniertes, sehr aufwendiges Forschungsdesign, das sie folgendermaßen skizziert:
„Dem Lehrbuch kommt insgesamt die zentrale Rolle im (Schul-) Alltag eines Lernenden zu, da es nicht nur den einzelnen Fachunterricht, sondern auch seinen Umgang mit Büchern generell prägt und damit sogar seine Einstellung zum lebenslangen Lernen beeinflusst. Umso wichtiger erscheint es, dass die omnipräsenten Lehrbücher hohe Qualitätsstandards erfüllen und bestmöglich konzipiert, gestaltet und produziert werden. Doch stellt sich die Frage, woran sich ggf. die Qualität eines Lehrbuches feststellen lässt. Erstaunlicherweise sind nur verstreute Aussagen dazu zu finden, wie ein gutes – doch was meint dies? – Lehrbuch beschaffen sein soll. Offensichtlich fehlt es an einer umfassenden, fächerübergreifende theoretischen Darstellung zur Konzeption von Lehrbüchern. Aus diesem Forschungsdesiderat leitet sich das Ziel dieser Arbeit ab: Es soll eine Theorie zur Konzeption von Lehrbüchern für den Lateinunterricht entwickelt werden. Um sich diesem Ziel anzunähern, wird die theoretische Lehrbuchforschung mit einer umfangreichen Dokumentenanalyse (Untersuchung von acht La-
teinlehrbüchern) und einer empirischen Studie (Befragung) im Sinne einer Methodentriangula-tion verknüpft.
Dementsprechend erfolgt im ersten Teil der Arbeit eine umfassende theoretische Fundierung hinsichtlich des Konzepts Lehrbuch im Allgemeinen, des sprachlichen Fokus‘ von Lehrbüchern (Texte, Standardsprache, wichtige sprachliche Kompetenzen) und der in Lehrbüchern verwendeten Aufgaben resp. Übungen. Nach einer zunächst allgemein orientierten Darstellung wird jeder Schwerpunkt aufgrund des Zieles der Arbeit in Beziehung zum Lateinunterricht gesetzt. Im darauffolgenden zweiten Teil wird das Forschungsdesign vorgestellt, in dessen Rahmen u.a. eine Formel zur Bestimmung der Lesbarkeit eines lateinischen Textes entworfen wird. Anschließend werden im dritten Teil die Analyseergebnisse der acht untersuchten Lateinlehrbücher sowie die Befragungsergebnisse vorgestellt, um im nächsten Teil der Arbeit ausgewertet und zusammengefasst zu werden. Auf der Basis der vorausgegangenen Teile wird schließlich im letzten Teil der Arbeit eine Theorie zur Lateinlehrbuchkonzeption entworfen, die durch eine Handreichung für Lehrbuchentwickler konkretisiert wird“ (Einleitung, S. 15).
Wer sich in Zukunft mit Lateinlehrbüchern befasst, kommt um die Forschungsergebnisse von Andrea Beyer nicht herum. In meinem Bücherregal bekommt ihr Buch den Platz neben der Dissertation von Karl-Heinz Graf von Rothenburg/Rubricastellanus: Geschichte und Funktion von Abbildungen in lateinischen Lehrbüchern. Ein Beitrag zur Geschichte des textbezogenen Bildes (= Prismata. Band 18). Verlag Lang, Frankfurt 2009, Ein weiteres zukunftsträchtiges Forschungsfeld nennt Andrea Beyer: fachdidaktische Untersuchungen zu elektronischen Komponenten im Lateinunterricht.
Friedrich Maier, Rudolf Henneböhl, Das große Klausurenbuch zur Autorenlektüre (Prosa), Ovid-Verlag, Bad Driburg 2018, 212 Seiten, ISBN: 978-3-938952-34-4, 22,- €

Das von Friedrich Maier und Rudolf Henneböhl verfasste Buch „Latein – Das große Klausurenbuch. Prosa 2018“ dient als neue Möglichkeit für Studierende, die sich auf ihr Ergänzungslatinum an der Hochschule vorbereiten möchten. Da dieses Buch laut Einführung „an Schule und Universität gleichermaßen verwendbar“ ist, wird im Folgenden die Eignung für die Praxis – im universitären Propädeutikum – im Detail diskutiert.
Da die Lektürephase an den heutigen Universitäten meistens auf ein Semester beschränkt wird, ist dieses Buch grundsätzlich für ein Selbststudium ergänzend zu den regulären Veranstaltungen geeignet. Es enthält detaillierte Erklärungen der Gebrauchsmethodik und ist so gestaltet, dass es für die Benutzerinnen und Benutzer auch ohne Erläuterungen der Lehrpersonen jederzeit problemlos verwendbar ist. In jeder Lektion erfolgt zunächst die „grammatische Vorentlastung“ auf der rechten Seite, die die „im Prüfungstext einschlägigen“ Schwerpunkte umfasst. Ein kleiner V-Text auf der linken Seite dient dann der praktischen Wiederholung der Grammatik, und ein längerer T-Text darunter vom Niveau und Format einer Klausur schließt die Lektion ab. Auf diese Weise werden die Studierenden sowohl auf der theoretischen Ebene immer wieder mit der Grammatik konfrontiert als auch auf der praktischen Ebene in Bezug auf das Übersetzen trainiert. Beide Prozesse sind immer eng miteinander verbunden. Schließlich sind im hinteren Teil des Buches die Lösungen zu den lateinischen Texten beigefügt – ebenfalls ein benutzerfreundlicher Gestaltungspunkt. Die Positionen von Texten und Grammatik hätten vielleicht eher in vertauschter Reihenfolge geboten werden können. Doch lässt sich dies auch individuell jeweils so praktizieren.
Die Anzahl der Texte mit insgesamt 60 Lektionen ist absolut ausreichend für die Vorbereitung auf das Latinum, denn dafür brauchen die Studierenden eines immer noch am meisten: echtes Übersetzungstraining. Die Einteilung des Stoffes in Lektionen ist auch der planmäßigen Vorbereitung dienlich. Zudem sind Texte verschiedener Autoren, Perioden, und Gattungen ausgewählt und nach Epoche sowie auch nach Niveau geordnet. Der Fokus liegt dabei immer auf den klassischen Schriftstellern: Cäsar und Cicero, auch Seneca ist vielfach vertreten. Aber auch kirchliche Autoren, z. B. Augustinus, und die Humanisten, z. B. Erasmus, sind in die Textsammlung mit aufgenommen, so dass die Studierenden ein vollständigeres und diachrones Bild der Entwicklung der lateinischen Sprache erhalten. Zu jedem der Autoren finden sich im vorderen Teil des Buches zudem kurze Informationstexte.
Zwei Probleme für Studierende deuten sich an. Zum einen umfasst der Text einer universitären Latinum-Klausur ca. 180 Wörter, aber der T-Text im Buch immer nur ca. 100 Wörter, d. h. die Länge ist den Universitätsbedürfnissen nicht zielgenau angepasst. Hier empfiehlt es sich, seinen vorbereitenden Prüfungstest jeweils auf zwei T-Texte festzulegen. Da das Propädeutikum für das Ergänzungslatinum normalerweise schon zu Beginn der Universitätskurse auf ein bestimmtes Thema aus Philosophie, Historiographie oder Rhetorik beschränkt wird, erscheint hier die individuelle Auswahl aus solchen zahlreich angebotenen Texten geboten.
Als weiterer Vorzug des Klausurenbuchs erweist sich: Alle wichtigen grammatischen Punkte werden so kurz, aber auch so klar wie möglich beschrieben, z. B. Nebensätze, der Konjunktiv, schwierige Kasus und infinite Verbalkonstruktionen. Dadurch, dass der Stoff immer wiederholt wird, verbessern sich die Sprachkenntnisse der Studierenden, und ein zusätzlicher Teil der Grammatik-Lernhilfe ist im hinteren Teil des Buches auf einigen Seiten zusammengefasst. Allerdings könnten die Verwendungen, vor allem die der Verbalkonstruktionen und der Nebensätze, noch detaillierter beschrieben werden, denn diese stellen für die Studierenden immer ein besonderes Problem dar. Die farbliche Gestaltung des Buches kann für Studierende irritierend wirken. Die hellen, bunten Farben Rot, Blau und Grün, in Text und Bild verwendet, stiften womöglich Verwirrung. Bloßes Schwarz-Weiß wäre da günstiger. Allerdings ist das Buch ja auch für Schülerinnen und Schüler am Gymnasium gedacht, wo die Farbe als Instrument der Verdeutlichung und Hervorhebung gefordert ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieses Buch, wie im Titel geäußert, sehr stark praxisorientiert und damit bestens geeignet ist für die Nutzung auch im universitären Propädeutikum. Trotz der angedeuteten kleineren Schwierigkeiten im Gebrauch kann man das Buch guten Gewissens für die Verwendung an Hochschulen empfehlen. Yan Jin, Humboldt-Universität zu Berlin
Auferstehung der Antike. Archäologische Stätten digital rekonstruiert (50 Jahre Antike Welt), Redaktion: Eva Pasch und Holger Kieburg, wbg Philipp von Zabern Darmstadt 2019, 132 Seiten, 86 Illustrationen, farbig; 17 Illustrationen, schwarz-weiß, 24 x 30 cm, geb. mit SU. wbg-Bestell-Nr. 1022575, ISBN 978-3-8053-5213-0, Ladenpreis: 40,00 €, für Mitglieder: 32,00 €

Die ANTIKE WELT, Zeitschrift zur Archäologie und Kulturgeschichte, feiert ihren 50. Geburtstag. Gegründet 1970 im Schweizer Raggi-Verlag (zunächst nur in einer Auflage von 50 Exemplaren produziert) wurde sie 1989 vom Zabern-Verlag übernommen; seit 2014 wird sie von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt verlegt und hat 2019 eine Druckauflage von 9000 Exemplaren. Seit 2004 erscheint- nicht nur für Berliner Leser von Interesse - regelmäßig die Rubrik Museumsinsel Berlin im Heft, in welcher der Verein der Freunde der Antike auf der Museumsinsel seine Arbeit vorstellt und Beiträge zu den Sammlungen im Pergamonmuseum und zur Antikensammlung im Pergamon- und Alten Museum bringt. Seit 1995 erscheinen sechs Hefte pro Jahr, regelmäßig gibt es Sonderhefte. Klar, dass zum 50. Jubiläum der Antiken Welt solch ein Sonderband erschienen ist. Sein zukunftweisendes Thema: „Auferstehung der Antike. Archäologische Stätten digital rekonstruiert”.
Antike Bauwerke wiedererrichten – das ist in den letzten Jahren durch neue technische Mittel möglich geworden. 3D-Rekonstruktionen lassen archäologischer Stätten, einzelne Gebäude und ganze Siedlungen digital auferstehen. Ausmaße, Details und vor allem Dimensionen antiker Bauwerke werden greifbar. In aufwändigen dreidimensionalen digitalen Modellen werden längst zerstörte oder stark veränderte Orte in ihren vermutlichen Originalzustand zurückversetzt. Gezeigt werden in diesem Jubiläumsband 24 doppelseitige Rekonstruktionen von 24 archäologischen Stätten unterschiedlicher Kulturen, das sind: Uruk. Megacity vor 5000 Jahren, Die minoische Siedlung von Akrotiri auf Santorini, Der Tempel des Wettergottes von Aleppo, Die hethitischen Städte Sarissa und Samuha, Pi-Ramesse. Die ägyptische Hauptstadt des späten Neuen Reiches, Der Grat Be’al Gebri. Ein palastartiger Monumentalbau aus dem frühen 1. Jh. v. Chr. im Hochland Äthiopiens, Bauwerke auf dem Tell Halaf in Syrien, Die Gesamtrekonstruktion des frühkeltischen Machtzentrums Heuneburg, Ullastret. Ein iberisches Oppidum in Katalonien, Die römische Meeresvilla von Capo di Sorrento (ein Projekt der Humboldt-Universität zu Berlin), Der Augustustempel auf der Nilinsel Philae, Das digitale Forum Romanum Sorrento (ein Projekt des Winckelmann-Institus der HUB), Das Terrassenheiligtum von Munigua bei Sevilla in Spanien, Der Portus Romae nördlich von Ostia, Das Forum vonLopodunum/Ladenburg, Pergamon (ein Projekt der Brandenburgischen TU Cottbus u.a.), Köln, Carnuntum, Xanten, Rom in der Spätantike, Iustiniana Prima. Eine der letzten Stadtgründungen in der Antike, Ephesos. Alltag in einer spätantiken Taberne, Die Innenraumrekonstruktion der Hagia Sophia in Istanbul und Die digitale Rekonstruktion eines buddhistischen Tempels in der alten mongolischen Hauptstadt Karakorum.
Die jeweils doppelseitig abgebildeten Rekonstruktionen sind versehen mit den wichtigsten Stichpunkten zum Grabungsprojekt, zum Zeitraum der Untersuchungen, den verwendeten Methoden und zentralen Daten der Durchführung. Bei der Gestaltung und Umsetzung einer virtuellen Rekonstruktion muss mit Bedacht vorgegangen werden, denn die richtige und wohlüberlegte Methodik und Datengrundlage macht den Unterschied zwischen Fantasie und einer realistischen Rekonstruktion aus. Sie dokumentieren, was gesichertes Wissen, was erschlossen und was Spekulation ist. Meist ein sehr schmaler Grat. Am Ende des Buches findet der Leser die Londoner Charta von 2009, einen Katalog von Leitsätzen für die computergestützte Visualisierung von kulturellem Erbe, 122–124. Eingestreut in die 24 Rekonstruktionen gibt es vier Artikel mit Hintergrundinformationen zu den neuen digitalen Techniken, 24ff: „Erfassung von 3D-Daten im archäologischen und kulturhistorischen Kontext”, 40ff: „Erstellung von digitalen Oberflächen- und Geländemodellen sowie 3D-Modellen”, 62ff: „Visualisierung von 3D-Modellen”, 82ff: „Bereitstellung von Informationen für Studien, Zustandsüberwachung und Replikation – Digitalisierung und Rematerialisierung des Grabs Sethos’ I”. Ein Literaturverzeichnis (128–131) zu den einzelnen Forschungsberichten rundet den Band ab.
Das Buch zeigt an einer Fülle von Beispielen, wie erfolgreich in den letzten rund 30 Jahren die bisher gebräuchlichen, sehr unterschiedlichen Visualisierungen von Antike – Holzmodelle, Gebäude aus Ton, neuzeitliche Korkmodelle, Gemälde und Stiche bis zu modernen Rekonstruktionen in Aquarell, Zinn oder aufwendigem Modellbau - um eine weitere hoch technische und didaktisch ergiebige „Gattung” ergänzt wurden: die digitale Rekonstruktion. Dabei geht es allerdings nicht nur um eine Visualisierung auf der Grundlage aller zugänglichen Quellen, sondern um ein eigenständiges Forschungsinstrument zur Gewinnung neuen Wissens. Die digitale Simulation einer Ansprache auf der neuen Rednerbühne Caesars auf dem Forum Romanum zeigt, wie gut der Redner in welcher Distanz hörbar war (69): „Auch dies hat Konsequenzen für die Erforschung des Forums: Während bauliche Eingriffe bislang meist als Ausdruck einer symbolischen Repräsentation interpretiert wurden, erlauben nun die digitalen Simulationen von konkreten Handlungen im 3D-Modell, die pragmatisch-funktionale Dimension in der Ausgestaltung des Forums wieder besser zu erforschen” (69).
Golvin, Jean-Claude, Metropolen der Antike, 2. erw. Auflage. Aus dem Franz. von Geneviève Lüscher und Birgit Lamerz-Beckschäfer. 240 S. mit etwa 160 Zeichnungen und 10 Kt., Glossar, Bibliogr., 24,5 x 29 cm. wbg Theiss, Darmstadt 2019, ISBN: 978-3-8053-5184-3, 48,00 €

Antike in Aquarellen – die zum Träumen einladenden Bilder, die mit dem Namen JeanClaude Golvin verbunden sind, haben einen langen Herstellungsweg hinter sich, das Recherchieren vor Ort, die Kenntnis der topografischen Gegebenheiten und der Verlauf der Stadtgrenzen, eine Vorstellung vom Stadtbild und den großen öffentlichen Bauten; oft liegen divergierende Ausgrabungsberichte vor, das Gespräch mit Archäologen ist zu führen und schließlich braucht es den Mut zu einem Gesamtbild. In einem Text können die unerforschten Gebiete übergangen oder bloß gestreift werden; bei einem Bild ist das nicht möglich. „Einige Archäologen haben sich darüber lustig gemacht, sie hatten offenbar noch nie über ihren Fundort als Ganzes nachgedacht; andere haben sich bei Detailfragen aufgehalten, als ob einzig der Durchmesser einer Säule oder die Farbe einer Wandmalerei zählen würden. Aber für viele Archäologen bot die Auseinandersetzung mit Jean-Claude Golvin die Möglichkeit zur Reflexion. Oft ist das Bild Golvins das erste einer Fundstelle; es zieht Gewissheiten in Zweifel und provoziert gleichzeitig neue Fragen. Letztlich sind diese Zeichnungen erstaunliche Synthesen: Auf wenigen Quardratzentimetern Papier sind Tausende von Informationen gespeichert – auf einen Blick lassen sich Dutzende von wissenschaftlichen Publikationen und Plänen erfassen” (S. 5, Vorwort von F. Lontcho).
Jean-Claude Golvin hat Architektur studiert und sich schon während des Studiums sehr für die Antike interessiert. Seit 1976 ist er Mitarbeiter am Centre national de la recherche scientifique, der traditionsreichsten unter den französischen Hochschulen für bildende Künste, er arbeitete Ende der 1970er-Jahre unter Robert Étienne bei Grabungen im portugiesischen Conimbriga mit, bevor er für ein Jahrzehnt (bis 1990) Leitungsfunktionen bei der ständigen französischen Mission in Karnak und Luxor übernahm. Von 1992 bis zu seiner Emeritierung 2008 war er directeur de recherche am CNRS beim Institut Ausonius der Universität Bordeaux. In dieser Zeit war er neben seiner Mitarbeit bei der Erforschung mehrerer antiker Stätten in Tunesien auch sieben Jahre lang an Studien zur Rekonstruktion des Circus Maximus in Rom beteiligt. Ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit ist seit Ende der 1980er-Jahre die Anfertigung von Rekonstruktionen (in der Regel als aquarellierte Tuschezeichnungen erstellt) von einzelnen Monumenten wie zum Beispiel dem Amphitheater von El Djem oder dem Colosseum in Rom bis hin zu ganzen Stadtanlagen, beispielsweise der antiken Städte Alexandria, Arelate (Arles) oder Lutetia (Paris). Diese Arbeiten wurden seit 1995 in mehr als zwei Dutzend Ausstellungen zu archäologischen Themen vornehmlich in Frankreich, aber auch in anderen Ländern Europas und Nordafrikas gezeigt. Ende 2010 übereignete Golvin den bisherigen Fundus seines Ateliers (geschätzt wurden vor der Übergabe um die 800 Zeichnungen und Aquarelle, tatsächlich belief sich die Summe der Arbeiten dann auf über 1000) dem Musée départemental Arles antique.
In diesem Buch sind nun die Bilder der wichtigsten antiken Orte aus dem Zeitraum von 2500 v. Chr. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. zusammengestellt. Sie zeigen Fundstätten aus dem Vorderen Orient, 10ff., Ägypten, 32ff., Griechenland, 60ff., der Türkei, 85ff., Italien und Kroatien, 102ff., Nordafrika, 131ff., Spanien und Portugal, 176ff., Frankreich, 186ff., sowie Deutschland und der Schweiz, 222ff. Überwiegend handelt es sich um Stadtansichten aus der Vogelperspektive, die nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgeführt sind. Die Zeichnungen sind vielfach doppelseitig, zu den ausgewählten Orten gibt es historische Erläuterungen und archäologisch-städtebauliche Erklärungen, meist auch eine Legende mit Benennung der zentralen Bauten und ihrer Besonderheiten. Einige Zeichnungen habe ich sicherlich schon in anderen Publikationen gesehen, aber sehr viele fesseln den Betrachter wegen ihres Neuigkeitswertes, etwa der Blick (wie aus dem Flugzeug) auf den Hafen von Puteoli, 123ff, auf Hierapolis/Pamukkale, 97, Ephesos, 88ff., Athen zur Römerzeit, 68–73, Delphi, 60ff.; faszinierend der Blick auf das Niltal von Alexandria bis Abu Simbel, 32f., und Achetaton/Tell el-Amarna, 35ff. Die Augen wandern durch Persepolis und Palmyra, 16ff., aber auch durch Conimbriga, Bibracte und Alesia, durch Arausio, Arelate, Andesina und Lutetia. Der französische Archäologe und Zeichner Jean-Claude Golvin erweckt die Welt der Antike zu neuem Leben. Informative Texte zu jedem Ort und ausführliche Erläuterungen zu jedem Bild ergänzen diese visuelle Reise. In der neuen und erweiterten Ausgabe sind über 25 Metropolen hinzugekommen, wie Caesarea in Israel, Pi-Ramses in Ägypten, Korinth in Griechenland, Xanthos in der Türkei, aber auch viele nordafrikanische Städte, wie Bullia Regia in Tunesien oder Rapoidum in Algerien. Ganz wie im 19. Jahrhundert hat Jean-Claude Golvin die antiken Städte in Aquarelltechnik dargestellt und dies ist ihm, Computeranimation hin oder her, auf „suggestive” Weise gelungen, sie verschaffen dem Betrachter mehr Platz zum Träumen als das Computerbilder jemals hinbekommen. Er sieht seine Zeichnungen als effizientes Ausdrucksmittel zwischen Forschung und Kommunikation. Denn seit den 1980er-Jahren heizten der Aufschwung der audiovisuellen Medien und die IT-Revolution eine enorme Nachfrage nach solchen Bildern an. Die mit Aquarell lavierten perspektivischen Tuschezeichnungen auf Papier sind ein sehr traditionelles Ausdrucksmittel, und gerade das mache ihren Charme aus. „Erwecken wir diese Schönheiten aus ihrem Dornröschenschlaf. Lassen wir sie aus dem Schatten hervortreten und sich uns geheimnisvoll nähern, auch wenn wir sie nie wirklich zu fassen bekommen. Aus Liebe zur Geschichte und aus Respekt vor dem Erbe der Menschheit können wir diese Bilder einfach als Einladung zu einer schönen Reise durch die Jahrhunderte verstehen”( Vorwort, S. 9).
Esch, Arnold: Historische Landschaften Italiens. Wanderungen zwischen Venedig und Syrakus, Verlag C. H. Beck München, 2018, 3. Auflage 2019. 368 S. mit 60 Abbildungen. Hardcover. ISBN 978-3-406-72565-4,29,95 €

Arnold Esch war von 1977–1988 Professor für Mittelalterliche Geschichte in Bern und von 1988 bis zu seiner Emeritierung 2001 Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom. Er forschte hauptsächlich zur italienischen Geschichte im 14. und 15. Jahrhundert. In dieser Phase kehrte das Papsttum von Avignon nach Rom zurück und in Italien entfaltete sich die Renaissance. Die Menschen jener Zeiten und die Landschaften und ihre Straßen haben es ihm – wie seine Veröffentlichungen durchgängig zeigen – in besonderer Weise angetan. Bei Arnold Esch lernt man sehen. Er durchwanderte mit seiner Frau die fünf aus der Antike überkommenen Straßenzüge (Via Appia, Via Cassia, Via Flaminia, Via Salaria, Via Valeria).
Diese persönlichen Erfahrungen waren die Grundlage für zahlreiche Einzelveröffentlichungen und wurden 1997 in einer Monographie veröffentlicht Römische Straßen in ihrer Landschaft. Das Nachleben antiker Straßen um Rom. Mit Hinweisen zur Begehung im Gelände (Philipp von Zabern, Mainz 1997). 2003 folgten Wege nach Rom. Annäherungen aus zehn Jahrhunderten (C.H. Beck, München 2003). 2008 erschien Landschaften der Frührenaissance. Auf Ausflug mit Pius II. (C.H. Beck, München 2008), 2010 Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Geschichten selbst erzählt in Schreiben an den Papst (C.H. Beck, München 2010), 2011 der Titel Zwischen Antike und Mittelalter. Der Verfall des römischen Straßensystems in Mittelitalien und die Via Amerina (C.H. Beck, München 2011 und 2016 das Buch Rom. Vom Mittelalter zur Renaissance. 1378–1484. (Beck, München 2016). Arnold Esch hat sich auf Spurensuche in die Archive begeben und die Lebenswelten mittelalterlicher Menschen freigelegt. In seinen elegant erzählten Miniaturen wird das Mittelalter einmal aus allernächster Nähe mit den Augen der Betroffenen betrachtet und gerade dadurch ungewöhnlich anschaulich. Andere Beobachtungen gehen auf jahrzehntelange eigene Forschungen und Wanderungen zurück, wenn er den Verfall des hochentwickelten römischen Straßensystems nach dem Ende des Römischen Reiches. Er erklärt, warum einzelne Strecken schon früh außer Gebrauch gerieten, während andere überdauerten.
Das im vergangene Jahr bei Beck erschienene (und nun schon in 3. Auflage vorliegende) Buch Historische Landschaften Italiens. Wanderungen zwischen Venedig und Syrakus nimmt den Leser mit auf eine faszinierende Reise quer durch die vielfältigen Landschaften Italiens in oftmals unbekannte Gegenden. ... Die in diesem Buch versammelten Beschreibungen betrachten italienische Landschaft von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Auf verlassenen römischen Straßen, auf alten Pilgerpfaden, durch etruskische Schluchtwege und auf den Bahnen des Viehtriebs durchstreift der Autor sein Gelände. Die Ergebnisse historischer und archäologischer Forschung, die unterschiedliche Wahrnehmung italienischer Landschaft in der Malerei und in der Literatur werden in das Landschaftserlebnis einbezogen (Klappentext).
»Die folgenden Beobachtungen ... wollen kein Reiseführer zu Landschaftsidyllen sein, sondern der Versuch, Natur und Geschichte – die in diesem Land beide ihre höchste Steigerung erfahren haben – in ihrem innigen Zusammenhang zu sehen. In einem ersten Teil erscheint italienische Landschaft im Durchgang durch die historische Zeit: Wandel des Landschaftsbildes und Wandel der Wahrnehmung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert« (S. 9). Hier nur eine kleine Auswahl der 21 Landschaftsbilder: I. Wie Ruinenlandschaft entsteht. Die letzten Bewohner von Ostia (S. 13ff.) –
IV. Die Stadtlandschaft des mittelalterlichen Rom. Wandel und Auflösung des Siedlungsgewebes innerhalb der antiken Stadtmauern (S. 80 ff.) – V. Fremde Landschaft und vertraute Landschaft in Reiseberichten des späten Mittelalters (S. 96 ff.) – VII. Zur Identifizierung gemalter italienischer Landschaft des 18. und 19. Jahrhunderts (S 128 ff.) – VIII. Italien-Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Ferdinand Gregorovius, Wanderjahre in Italien (S. 151 ff.).
Ein zweiter Teil betrachtet italienische Landschaft in ihrer unvergleichlichen Vielfalt als historischen Raum. – XI. Im oberen Tibertal. Kulturlandschaft zwischen Toskana und Umbrien, Marken, Romagna (S. 204 ff.) – XV. Die Wasser des Aniene. Nero und der Hl. Benedikt in der Berglandschaft von Subiaco (S. 243 ff.) – XVII. Ummauerte Landschaft. Das Gelände von Syrakus als historischer Schauplatz (S. 262 ff.)
Teil drei beschreibt Antike in der Landschaft: römische Monumente, soweit sie vollkommen in der Landschaft aufgegangen sind. – XVIII. Landschaft mit römischer Straße (S. 275 ff.) – XIX. Archäologie aus dem Archiv. Antike Monumente in frühmittelalterlichen Grenzbeschreibungen um Rom (S. 290 ff.) – XX. Unausgegrabene Amphitheater als Bestandteil der Landschaft (S. 303 ff.) – XXI. Landschaft mit Aquädukten. Zwischen Tivoli und Palestrina (S. 318 ff.).
Ein Historiker, so meint man, habe es mit der Vergangenheit zu tun. Und diese sei, was in der Natur des Begriffs liege, stets etwas Abgeschlossenes. Arnold Esch nimmt den Weg über die Gegenwart und die Anschauung: Warum, so fragt er (S. 231 ff.) angesichts des Dorfes Mugnano im Tibertal, werden solche Siedlungen in Mittelitalien immer zu burgartigen Anlagen? Weil sich nach dem Ende des Römischen, dann des Karolingischen Reiches die ländliche Bevölkerung dahin flüchtete und dort bleiben musste, bis zur Etablierung eines staatlichen Gewaltmonopols. »Man kann diese Linie noch ein Stück weiter ausziehen, um sich den unübersehbaren Stillstand vieler dieser Höhensiedlungen zu erklären: ein solcher Ort wird im 19. Jahrhundert keinen Eisenbahnanschluss bekommen und darum auch keine Industrie, wird darum im Zweiten Weltkrieg nicht bombardiert und nach 1945 nicht moderner wiederaufgebaut werden.« Der Ort bleibt in seine Vergangenheit eingeschlossen, und weil dieses Schicksal vielen Dörfern und kleinen Städten in Italien widerfährt, »wird der Abstand immer größer« (S. 235f). »Diese castra hatten, in der Wahrnehmung des nördlichen Wanderers, bei aller Kleinheit nichts von einem Dorf an sich. So schienen ihm alle Siedlungen Städte, und entsprechend benennt er sie. ... Tatsächlich war Italien damals das am stärksten urbanisierte Land, ja man hat errechnet, dass es hier im Mittelalter zahlreiche Städte mit mehr als 10000 Einwohnern gab und somit mehr städtische Zentren dieser Kategorie als im ganzen restlichen Europa zusammen« (S. 236). Mittlerweile gebe es nicht einmal mehr die Maler, die dieser manchmal allzu gegenwärtigen Geschichte noch eine Ansicht abgewinnen könnten.
Zum vielfachen Schmunzeln brachte mich der Beitrag Nr. V. Ungewöhnlich und reizvoll schon der Blickwinkel: Fremde Landschaft und vertraute Landschaft in Reiseberichten des späten Mittelalters (S. 96 ff.). Esch fragt: „Wie beschreibt man Aussehen und Ausmaße fremder Länder aus reiner Anschauung ohne die ausgebildeten Begrifflichkeit moderner Länderkunde? Wie vermittelt man die Lage einer Stadt, die Breite eines Flusses, die Höhe eines Gebirges, ohne voraussetzen zu dürfen, dass für Grundinformationen, Daten, Rückfragen doch Atlanten, Länderkunden, Nachschlagewerke und das Internet zur Verfügung stehen? Wie kann man einem Leser, der den engsten Kreis seiner Heimat vielleicht noch nie verlassen hat, die Weite Asiens, die Lage von Jerusalem, das Geländerelief von Bethlehem, den Eindruck von der Gegend um Beirut ohne Rückgriff auf Kartenwerke und Bildbände vor Augen führen, buchstäblich ‚vor Augen führen’?” (S. 96)
Das Mittelalter bewältigt diese Probleme durch Vergleich; der Nil ist so breit wie der Rhein, der Jordan so schlammig wie der Po, der Don so breit wie die Seine; Jerusalem ist dem einen so groß wie Basel, dem anderen so groß wie Pistoia, einem dritten so groß wie Augsburg. „Dass Vergleiche so disparat ausfallen, liegt eben darin, dass sie in unterschieder Wirklichkeit verankert sind ... dem Florentiner dient seine S. Maria Novella dazu, die Größe der Geburtskirche in Bethlehem, einer Moschee in Kairo, oder von S. Maria Maggiore in Rom zu bestimmen. Es gibt nichts, wofür sich nicht eine heimatliche Entsprechung finden ließe – und so ziehen diese Reisenden eine breite Spur französischer, italienischer, deutscher Vergleiche quer durch den vorderen Orient. ... Sie vergleichen nicht nur verschieden, sie sehen schon verschieden” (S. 98).
Pilger aus Regionen nördlich der Alpen sehen anders, weil ihr Auge anders erzogen, ihre Umgebung anders geprägt, ihr Interesse anders gerichtet ist: Dass die Mosaiksteine in der Geburtskirche zu Bethlehem ‚so groß wie Bohnen’ sind, würde einem Florentiner schwerlich in den Sinn kommen. Er braucht ja nur in seinem Baptisterium an die Decke zu schauen, und 'Bohne' war für ihn sowieso keine Kategorie. Oder: dass die Geißelsäule ›so dick wie ein ordentlicher Birnbaum‹ ist, wie ein Breslauer 1496 seinen Breslauern mitteilt, ist auch nicht gerade das, was einem Italiener einfällt, der in seinem Leben vermutlich mehr Säulen als Birnbäume sah. Der Nürnberger Pilger Hans Tucher überträgt seinen Nürnbergern die wichtigsten Stätten innerhalb der Grabeskirche auf die vertraute Stadtkirche St. Sebald: „Um Jesu Rock gewürfelt worden wäre in St. Sebald beim Sakramentshäuschen: die Dornenkrone aufgesetzt worden wäre ihm in St. Sebald zwischen Petersaltar und Stephansaltar, und gekreuzigt worden wäre er beim Dreikönigsportal mit Blickrichtung Schule. So wird Heilsgeschichte zu Hause abschreitbar.” (S. 100).
Solche Perspektive nehmen allerdings nicht nur Pilger ein. Konrad von Querfurt beschreibt 1195 eine Beobachtung, die auch heute immer noch eine Anmerkung im Lateinunterricht wert ist: »er hatte sich den Rubikon viel ansehnlicher gedacht und muss nun enttäuscht seine Vorstellung redimensionieren: ›ein winziger (nicht Fluß, sondern) Bach‹, minimus non fluvius sed rivulus – nämlich nicht so breit, wie Caesars Entscheidungsschritt hätte erwarten lassen« (S. 104). „Ein vorzüglich geschriebenes, anschauungsreiches und wissenssattes Buch”, schreibt Rezensent Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung vom 5.3.2019. Dem stimme ich voll zu.
Filippo Coarelli, Rom. Der archäologische Führer. Aus dem Italienischen von Agnes Allroggen-Bedel und Michaela Heissenberger. Wissenschaftliche Buchgesellschaft / Philipp von Zabern, 400 Seiten mit 120 Illustrationen, Hardcover, 35,00 €, ISBN 978-3-8053-5219-2, als e-book: 19,99 €, 15,99 € für Mitglieder

Die deutsche Erstausgabe des „Coarelli” erschien 1975 unter dem Titel „Rom. Ein archäologischer Führer” (ital. „Guide Archeologico di Roma”, Milano 1974). Die sechste, mehrfach erweiterte Ausgabe erschien soeben bei Philipp von Zabern / WBG mit dem Titel „Rom. Der archäologische Führer”. Der feine Unterschied besteht zu Recht, gilt „der Coarelli” doch als die „Bibel“ des antiken Roms und stellt bis heute das Standardwerk für jeden Rom-Kenner dar.
Filippo Coarelli studierte als Schüler von Ranuccio Bianchi Bandinelli an der Universität Rom und war dort bis 1968 als Assistent tätig. 1968 bis 1973 war er Inspektor der städtischen Antikenverwaltung von Rom. Von 1972 an lehrte er an der Universität Siena, von 1977 bis zu seiner Emeritierung 2009 als Professor für Griechische und Römische Altertumskunde an der Universität Perugia.
Rom ist aufgrund der vielen erhaltenen Zeugnisse seiner langen Geschichte ein beliebtes Ziel für Touristen, (Hobby-)Historiker und -Archäologen. Die Anzahl der konventionellen Reiseführer ist deshalb schier unendlich. Mit „Rom. Der archäologische Führer” Filippo Coarelli dem Besucher allerdings einen ganz anderen Zugang zu der historischen Stadt, als das ein gewöhnlicher Reiseführer leisten könnte. Schon in der Einleitung geht es um die Geographie und Geschichte der Stadt Rom; darauf folgen drei große Kapitel über die „Großen öffentlichen Bauten”, 43–198, (sc. die Stadtmauern und Wasserleitungen), „Das religiöse und politische Zentrum der Stadt”, 199–348, und „Die augusteischen Regionen”, 199–363. Im Anhang findet der Leser Informationen zu Bautechniken, Baumaterialien, eine sehr umfangreiche, thematisch strukturierte Bibliographie und ein Register.
Der besondere Reiz des Buches liegt in seinem Detailreichtum, so dass es sich gerade lohnt, dort nachzulesen, wo man Bescheid zu wissen glaubt. Alle bedeutenden und die weniger bekannten Denkmäler der Ewigen Stadt (auch verschüttete oder aktuell nicht zugängliche Denkmäler werden nicht unterschlagen) sind mit Hilfe anschaulicher Pläne gut zu finden. Neben der historischen Einordnung und der Darstellung der städtebaulichen Entwicklung erwarten den Romliebhaber detaillierte Beschreibungen, Grundrisse, Rekonstruktionszeichnungen und Illustrationen, die lateinischen Texte der Inschriften (und ihre Übersetzung) sowie Zitate antiker Quellen. Zu den Höhepunkten zählt die Beschreibung des zweihundert Meter langen Reliefbandes der Trajans-Säule, 128–139, mit Hilfe von hundertvierzehn schematischen Zeichnungen nebst Bilderklärungen.
Man lernt aber auch sonst viel in diesem Buch, gleich ob Begriffe wie Peperin (i.e. Lapis Albanus, fester, aschgrauer Tuff aus den noch heute genutzten Steinbrüchen bei Marino) oder Akrolith (i.e. eine Statue, bei der nur die nackten Körperteile wie Kopf, Arme, Beine aus Marmor gefertigt sind, die übrigen Teile sind dann etwa aus vergoldeter Bronze; wie bei der Sitzstatue des Konstantin, deren Kopf im Hof des Konservatorenpalasts ausgestellt ist). Kleine Details (aber mit hohem schulischen Erzählwert) sind etwa, dass die Höhe der Curie wohl eine Erforderlichkeit der Akustik war (S.73), dass vor der Einführung der ersten Sonnenuhr während des ersten Punischen Krieges 263 v. Chr. ein Ausrufer die wichtigsten Stunden des Tages verkündete; dabei stand er auf den Stufen der Curia Hostilia und beobachtete den Lauf der Sonne zwischen der Rostra und der Graecostasis, um die Mittagsstunde anzukündigen, und zwischen der Columna Maenia und dem Carcer, um den Sonnenuntergang zu verkünden (68f.). Interessant, dass die Aqua Alsietina nicht trinkbares Wasser nach Rom lieferte (39) und die Aqua tepula ihren Namen nach der lauen Temperatur des Wassers trug (38), dass zur Datierung eines Feuers in der Basilica Aemilia Münzen dienten, die beim Brand eingeschmolzen sind (65), dass an der Stelle der Maxentiusbasilika vor deren Bau eine Horrea Piperataria, Lagerräume für Pfeffer und andere Gewürze, standen (104), dass im 17. Jahrhundert das Forum als Steinbruch erschöpft war und der Vandalismus endete (63); die erste wissenschaftliche Grabung fand dort 1788 statt. Der Coarelli gibt übrigens auch Besichtigungstipps: „Vor der Besichtigung des Forums empfiehlt es sich, zunächst von einem höher gelegenen Platz aus einen Überblick zu gewinnen. Den besten Blick hat man von der Terrasse an der rechten Seite des Senatorenpalasts auf dem Kapitol oder von den Arkaden des Tabularium (der Eingang ist kurz vor der eben erwähnten Terrasse). Am Ende der Besichtigung kann man auf den Palatin steigen, wo man von der Terrasse der Farnesinischen Gärten an der Nordspitze des Hügels ebenfalls einen weiten Ausblick genießen kann” (64); Die Denkmäler des Forums könne man in topographischer Reihenfolge vom Eingang ausgehend besichtigen, Coarelli empfiehlt allerdings „einen ungefähr der geschichtlichen Abfolge entsprechenden Weg, ... wodurch die Besichtigung sicherlich länger und anstrengender wird, die historische und bauliche Entwicklung der Anlage jedoch besser verstanden werden kann” (65). – Kurz gesagt: Zur wirklich intensiven Vorbereitung einer Romexkursion ist der „Coarelli” als das Standardwerk und der Klassiker zur römischen Stadtarchäologie weiterhin unverzichtbar, denn er eröffnet dem Besucher einen ganz anderen Zugang zu der historischen Stadt, als das ein gewöhnlicher Reiseführer leisten könnte.
Griechische Kleinepik. Hrsg. v. Baumbach, Manuel / Sitta, Horst / Zogg, Fabian, Reihe: Sammlung Tusculum, eBook (PDF): ISBN 978-3-11-053518-1, € 39.95€, Buchausgabe, Leinen: ISBN 978-3-11-053420-7, 39,95 €

Die Lektüre von Auszügen aus den Epen Homers und Vergils gehören zum festen Bestand des Oberstufenunterrichts in den alten Sprachen. In Niedersachsen beispielsweise wurde gerade als Zentralabiturthema „Aeneas – Sinnbild römischen Selbstverständnisses” festgelegt. Das ist schön und sinnvoll, hat aber im Unterricht mitunter die starke Tendenz zum Hehren und Feierlichen und Staatstragenden. Dass es dazu auch über die Jahrhunderte hinweg Gegenströmungen gab, zeigt ein Blick auf die griechische Kleinepik, „eine der facettenreichsten Subgattungen des Epos“, so die Herausgeber. Seit archaischer Zeit entstanden Epyllien in großer formaler und inhaltlicher Buntheit, die teils entlegene Mythen erzählten, oft mit Gattungsmischungen arbeiteten und zur humoristischen Gestaltung oder sogar Unterminierung des Etablierten neigten.
Der Band, den ich Ihnen hier vorstelle, versammelt erstmals in Originalsprache und Übersetzung die sechs wichtigsten, d. h. innerhalb der Gattungsgeschichte bedeutsamsten und zudem über ihre starke Rezeptionsgeschichte nobilitierten Texte: Pseudo‐Hesiods Schild, Moschos' Europa, den pseudo-homerischen Froschmäusekrieg, Triphiodors Eroberung Trojas, Kolluthos’ Raub der Helena und Musaios’ Hero und Leander. In einem Anhang ist als Rezeptionszeugnis der byzantinische Katzenmäusekrieg beigegeben.
In der Forschung gibt es nach Sicht der Herausgeber ein beständig wachsendes Interesse an der Gattung Epyllion; die griechischen Kleinepen hätten große Bedeutung und eine starke Rezeption seit der Antike gehabt, die bis in die Moderne fassbar sei. Der Band enthält einen Essay zur Entstehungs- und Gattungsgeschichte der griechischen Kleinepik, Einführungen in die einzelnen Werke unter Berücksichtigung ihrer Rezeptionsgeschichte und Anmerkungen mit Sacherläuterungen.
Je zwei Kleinepen wurden übersetzt und erläutert von den Herausgebern des Tusculum-Bandes Manuel Baumbach (Ruhr-Universität Bochum) sowie Horst Sitta und Fabian Zogg, (beide Universität Zürich).
Als ich kürzlich beim Augenarzt war und schon im Vorfeld auf eine lange Wartezeit eingestimmt wurde („nehmen Sie sich was zu lesen mit!”), hatte ich die „Griechische Kleinepik” mit dabei (in der Hoffnung, dass nicht der ganze Vergil oder Homer nötig sei, um die Wartezeit zu verkürzen). Ich nahm mir den Froschmäusekrieg vor und amüsierte mich im ärztlichen Wartezimmer schon über die ersten Zeilen, in denen traditionell die Musen angerufen werden:
„Am Anfang meiner ersten Seite bete ich dafür, dass der Chor vom Helikon in mein Herz komme um des Gesagten willen, den ich jüngst auf meinen Knien in den Schreibtafeln eingetragen habe, und ich bete dafür, dass das endlose Gefecht, das kriegserfüllte Werk des Ares, allen sprachmächtigen Menschen um die Ohren geschleudert werde, wie die Mäuse inmitten der Frösche sehr tapfer voranschritten, sich die Taten erdgeborener Männer zum Vorbild nehmend, der Giganten – so wurde die Geschichte unter den Sterblichen erzählt, und sie hatte den folgenden Anfang ...” (S. 77). Aus unscheinbaren Anfängen entsteht der große Konflikt zwischen den Fröschen und Mäusen, der schließlich in einen großen Krieg mündet. S. 87: „In Schlachtreihen geordnet standen sie am hohen Ufer, schwangen ihre Lanzen, und ein jeder war voller Mut. – Da rief Zeus die Götter in den sternenreichen Himmel, zeigte die Kriegsmenge sowie die starken Kämpfer – die vielen, große und mächtige Speere tragenden, genau so, wie das Heer der Kentauren voranschreitet oder das der Giganten – und fragte mit einem süßen Lächeln: ‚Wer von den Unsterblichen hilft den Fröschen oder den Mäusen?’ Und zu Athene sagte er: ‚Tochter, wirst du vielleicht den Mäusen zu Hilfe eilen? Denn sie hüpfen immer alle in deinem Tempel herum und erfreuen sich am Geruch des Opferfleischs und an allerlei Speisen.” Athene freilich lehnt wortreich ab, denn die Mäuse hätten ihr viel Unheil angetan. Was die Mäuse sich geleistet hätten, bringe sie gar in finanzielle Schwierigkeiten, von anderen Unannehmlichkeiten ganz zu schweigen: „Mein Kleid haben sie angenagt, das ich mühsam aus feinem Schussfaden gewoben hatte; ich hatte einen langen Kettfaden gesponnen – und sie haben Löcher hineingemacht! Jetzt bedrängt mich der Schneider und treibt von mir Zinsen ein: Das ist furchtbar für Unsterbliche! Ich habe nämlich mit geliehenem Geld genäht und kann das nicht zurückzahlen. Aber nicht einmal unter diesen Umständen will ich den Fröschen helfen. Denn sie sind auch überhaupt nicht zuverlässig; vielmehr lärmten sie kürzlich bei meinen Rückkehr von einem Kampf, als ich völlig ausgelaugt war und Schlaf brauchte und ließen mich nicht einmal ein bisschen einnicken - schlaflos lag ich da – mein Kopf schmerzte, bis der Hahn krähte ...” (89).
Da der Froschmäusekrieg nach 20 Buchseiten bei Sonnenuntergang durch den Blitz des Kroniden und den göttlichen Einsatz von Krebsen und die Flucht der Mäuse schon an sein Ende gekommen war, hatte ich im ärztlichen Wartezimmer noch genügend Zeit – nicht für Triphiodors „Eroberung Trojas” oder den „Raub der Helena” des Kolluthos, sondern für jenes sehr populäre kleine griechische Werk, das der venezianische Drucker Aldus Manutius als erstes 1485 verlegt hat: die tragische Liebesgeschichte von Hero und Leander (vgl. dazu Ovids Heroidenbriefe 18 und 19). Die ersten Zeilen stecken den Rahmen des Mythos ab, nennen Orte und handelnde Personen: „Erzähle, Göttin, von der Lampe, der Zeugin heimlicher Liebe, von dem, der des Nachts zu erdurchdringender Hochzeit schwamm, von Ehe im Dunkeln, die die unvergängliche Eos nicht gesehen hat, und von Sestos und Abydos, wo ich von der nächtlichen Ehe der Hero, von Leander, der herübergeschwommen kam und eben auch von der Lampe höre, jener Lampe, die zum Dienst an Aphrodite einlud, der hochzeitschmückenden Botin der nachthochzeitlichen Hero, von der Lampe, des Eros Freude: Hätte die doch der himmlische Zeus nach ihrem nächtlich mühsamen Einsatz in den Kreis der Sterne geführt und berufen als brautschmückendes Gestirn der Liebe, war sie doch Mitstreiterin in liebesrasender Qual und hatte sich zuverlässig um das Aufgebot zur Hochzeit ohne Schlaf gekümmert, bevor mit widrigen Böen feindlicher Sturmwind losstürmte. Jetzt aber: Besinge zusammen mit mir, dem Dichter, ihr gemeinsames Ende: der Lampe erlöschen und den Tod Leanders” (171).
Schon vor dem Ende der Lektüre (ebenfalls nur 20 Seiten) wurde ich in das Behandlungszimmer meines Augenarztes gerufen – und erfuhr erst danach vom dramatischen Ende des verliebten Paares: „Nach allen Seiten richtete sie ihren Blick auf den weiten Meeresrücken, ob sie irgendwo den Gatten herumirrend entdecken könne, da doch die Lampe erloschen war. Da erblickte sie –
am Fuß des Turmes, von den Klippen zerfetzt – ihren toten Gatten, zerriss sich vor der Brust den kunstvollen Chiton und stürzte sich kopfüber herabrauschend von ihrem steilen Turm. Tot lag Hero da zusammen mit ihrem leblosen Gatten. So hatten sie einander auch noch zuletzt, im Tode” (193).
Christine Schmitz, Juvenal (Reihe Olms Studienbücher Antike). Olms/Weidmann Verlag, Hildesheim 2019, 248 S., Paperback, ISBN: 978-3-487-15741-2, 22,00 EUR

In der Reihe Olms Studienbücher Antike gibt es mehr als ein Dutzend lieferbare Titel, erschienen in diesem Jahrzehnt und teils bereits in dritter und vierter Auflage, die einen wissenschaftlich fundierten Zugang zu einem lateinischen oder griechischen Autor ermöglichen, zu Ovid (Ulrich Schmitzer), Thukydides (Holger Sonnabend), Sallust bzw. Tacitus (Stephan Schmal), Polybios (Boris Dreyer), Herodot (Reinhold Bichler, Robert Rollinger), Terenz (Peter Kruschwitz), Aristophanes (Peter von Möllendorff), Aischylos (Manfred Lossau) und Celsus (Christian Schulze).
In Vorbereitung sind Bände zu Sueton (Klaus Scherberich) und Origenes (Christoph Markschies).
Erst kürzlich erschienen ist der Band von Christine Schmitz über Juvenal. Die Autorin lehrt als Professorin für Klassische Philologie/Latinistik an der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Römische Satire und ihre mittellateinische Rezeption, antikes Epos, Epigramm (Martial), antiker Roman (Apuleius), Mythos und Literatur, Rezeption der antiken Mythologie, lateinische Dichtung der Spätantike und Renaissance.
Die Einführung in der Reihe Studienbücher Antike verschafft einen Überblick über literaturtheoretische und sozialhistorische Fragen, die für das Verständnis der Satiren Juvenals zentral sind: das Verhältnis zwischen historischem Autor und textimmanentem Sprecher (persona-Theorie), die nicht mehr funktionierende Klient-Patron-Beziehung, rollenabweichendes Verhalten von Männern und Frauen der sozialen und politischen Elite, Konzepte von Homosexualität etc. Juvenal (ca. 60–140 n. Chr.) ist der letzte bedeutende Repräsentant der römischen Verssatire. Die Art, wie er sich in diese dynamische Gattung eingeschrieben hat (vgl. Kap. II: „Juvenal und die Gattung der römischen Verssatire”,44ff.), war prägend für die nachfolgende Satire, die als Schreibmodus unabhängig von formalen Charakteristika wie dem Hexameter fortlebt.
In exemplarischen Einzelinterpretationen werden Juvenals 16 Satiren in ihrer thematischen Vielfalt vorgestellt. (Kap. III, 72–161) Zwei hochinteressante Kapitel folgen: „Juvenals satirisch analysierender Blick auf die römische Gesellschaft”(162ff) und „Juvenals virtuose Technik: Satirisierung durch Sprache und Vers” (179ff.). Im sechsten, dem letzten Kapitel verfolgt Christine Schmitz schlaglichtartig Juvenals anhaltende Wirkung über Jahrhunderte hinweg bis zur Gegenwart. Zu seinen bekanntesten Satiren gehört die dritte über Rom, die im 18. Jahrhundert von Samuel Johnson und in unserer Zeit von Durs Grünbein frei adaptiert wurde, der „Bruder Juvenal“ als ersten Großstadtdichter bezeichnet. Gewöhnlich lässt man die Rezeption der Juvenalsatiren erst mit den christlichen Autoren beginnen. Mögliche Spuren der Satiren finden sich aber schon bei Apuleius. In der Spätantike scheint Juvenal dann in einigen Kreisen zum Modeautor avanciert zu sein (209). In der Spätantike trifft man auf eine intensive philologische Beschäftigung mit Juvenal. Seit der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts kann man regelrecht von einer Renaissance Juvenals sprechen. In der Spätantike und im Mittelalter scheint Juvenal bevorzugt als Chronist der dekadenten Moral im kaiserzeitlichen, noch nicht christianisierten Rom rezipiert worden zu sein (215). Petrarca führt ihn als moralische Autorität an, als solche rühmt ihn ebenfalls der Humanist Ennea Silvio Piccolomini, der spätere Papst Pius II (220). Im Kanon der zu lesenden Autoren lässt Piccolomini die Trias der römischen Satiriker Horaz, Juvenal und Persius Revue passieren. Martin Luther nennt Juvenal in einem Atemzug mit den als obszön empfundenen Epigrammatikern und Priapeen, um dafür zu plädieren, ihn aus der Schule zu entfernen (221). Von Luthers Bedenken gegen Juvenal als Schulautor lässt sich eine Linie zu den modernen Schulausgaben und insbesondere zu englischen Kommentaren des 19. Jahrhunderts ziehen, die einen von moralisch bedenklichen Stellen und ganzen Satiren gereinigten Juvenal präsentieren (222ff). „Der fragmentierte Juvenal” ist der letzte Abschnitt im Buch (231) überschrieben; gemeint ist damit, dass Juvenal derzeit oft nur fragmentiert und in seinen pointiert formulierten Wendungen und populären Sentenzen präsent ist, etwa: panem et circenses (10,81a), mens sana in corpore sano (10,356), sit pro ratione voluntas (6,223), difficile est saturam non scribere (1,30) – Motive genug, wieder einmal eine Juvenalpassage für die Lektüre im Unterricht auszuwählen.
Partner, Freunde und Gefährten. Mensch-Tier-Beziehungen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit in lateinischen Texten, hrsg. von Gabriela Kompatscher Gufler, Franz Römer und Sonja Schreiner. 154 Seiten, Wien 2014, Verlag Holzhausen, 19,80 €, ISBN: 978-3-902976-26-0

ANIMAL AD HOMINEM
„Weine nicht, weil ich jetzt schlafe.
Denk daran, wie schön es war.
Hab Dank, dass wir einander hatten
und dass Du mich hast gehen lassen.”
OMNIBUS QUI INTELLEGUNT
Diese Widmung findet der Leser auf der Eingangsseite dieses nachdrücklich zu empfehlenden Buchs für den lateinischen Lektüreunterricht. Es ist bereits 2014 im Wiener Verlag Holzhausen erschienen, aber erst kürzlich habe ich es entdeckt. Auf das weite Feld der Mensch-Tier-Beziehungen in der griechischen Literatur war ich bei der Lektüre des von Kai Brodersen übersetzten und herausgegebenen Tusculum-Bandes: Ailianos, Tierleben. Griechisch und deutsch. Berlin: De Gruyter 2018, gestoßen, das eine Fülle von Texten bietet. Der hier vorzustellende Band (gefördert von den Universitäten Innsbruck und Wien) hat primär die Verwendung lateinischer Texte im Lateinunterricht im Blick, bietet sich aber auch als Florilegium für Tierfreunde an sowie als Basis für einen interdisziplinären Unterricht unter Einbeziehung der neuen Disziplin der Human-Animal-Studies.
Die Autoren sind: Gabriela Kompatscher Gufler, außerordentliche Professorin für Lateinische Philologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck; der transdisziplinäre Bereich der Human-Animal Studies bildet einen ihrer Forschungsbereiche. - Franz Römer, er ist emeritierter ordentlicher Universitätsprofessor für Klassische Philologie an der Universität Wien. Er forschte u.a. zur (antiken) Fachliteratur, so zur „Naturkunde” des Älteren Plinius. – Die Neolatinistin und Komparatistin Sonja Schreiner ist Wissenschaftsreferentin am Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein der Universität Wien und Lehrbeauftragte an der Veterinärmedizinischen Universität Wien.
Den Weg zu diesem Buch hat mich auch der bevorstehende und jetzt eingetretene Tod unseres Hundes Bugatti finden lassen. Sehr viele Gedankenfetzen und Erinnerungen, die nun durch meinen Kopf fliegen, finde ich in den hier versammelten „Trauergedichten beim Verlust geliebter Tiere“. Eine Sammlung von Zitaten aus Texten von Theoderich von St. Trond (11. Jh.), Martial, Catull und Ovid bis zu Konrad von Würzburg (13. Jh.) sowie von anrührenden „Grabinschriften in Marmor“auf Margarita, Myia und Patrice (alle 2. Jh. n. Chr.) ließe ohne weiteres ein Bild zentraler Eigenschaften und Charakterzüge unseres Hundes entstehen. Soviel scheinen sich die Empfindungen und Erfahrungen von Hundebesitzern in zweitausend Jahren nicht geändert zu haben.
Portavi lacrimis madidus te, nostra catella,
quod feci lustris laetior ante tribus. ..
Tränenbenetzt trug ich dich in meinen Armen, mein Hündchen,
damals, vor drei Lustren, hatte ich mehr Freude dabei empfunden.
(Beginn der Grabinschrift auf das Hündchen Patrice, S. 28f)
In seinem Liebes- und Abenteuerroman schildert Konrad von Würzburg in einem Nebenstrang des Erzählverlaufs die liebevolle Freundschaft zwischen Anshelm und seinem Hund, gipfelnd in dem Bekenntnis:
sus wart er mîn geselle
und ich zehant der sîne da ...
so wurde er mein Gefährte
und ich sogleich der seine. (S. 30)
Bisweilen meint man auch parodistische Elemente zu erkennen. Einen Grabstein errichtete man wohl wirklich nur im Rahmen eines Trauerrituals. Dennoch: die folgenden Zeilen sind uns tatsächlich als Grabinschrift überliefert:
Gallia me genuit, nomen mihi divitis undae
concha dedit, formae nominis aptus honos. …
Gallien hat mich hervorgebracht, den Namen gab mir die Muschel
des fruchtbaren Meeres, der glänzende Name entspricht meiner Schönheit … (S. 26).
„Auf vielfältige und eindrückliche Weise belegen literarische und wissenschaftliche Texte sowie bildliche Darstellungen aus der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit menschliche Zuneigung gegenüber Tieren. In größerem Umfang begegnet man dem literarischen Ausdruck einer verinnerlichten Mensch-Tier-Beziehung erstmals in der Dichtkunst des Hellenismus (3./2. Jh.), doch schon die homerische Odyssee hat einen treuen Hund unsterblich gemacht: Argos stirbt erst, nachdem er die Rückkehr seines Herrn Odysseus (nach zwanzig Jahren!) erlebt hat.
„Partner, Freunde und Gefährten“ bietet erstmals eine Fülle von (lateinischen und volkssprachlichen) Texten zu zahlreichen domestizierten und wildlebenden Spezies und kommentiert bzw. interpretiert sie unter Heranziehung moderner wissenschaftlicher Literatur aus verschiedenen Sparten (Literaturwissenschaft, Geschichte, Verhaltensforschung, Zoologie und Tierethik). Das Nebeneinander von Originaltexten und Übersetzungen ermöglicht Zugänge von verschiedenen sprachlichen Niveaus aus. Die Konzeption ist insofern neuartig, als es bisher nur eine Handvoll ansatzweise vergleichbarer Publikationen gibt, die einem Paradigmenwechsel Rechnung tragen, der nicht mehr nach dem ökonomischen, sondern nach dem emotionalen Wert und den Rechten von Tieren fragt. Das vorliegende Lesebuch eignet sich somit – neben seiner Funktion als Florilegium für TierliebhaberInnen und TierschützerInnen, die sich auch mit Texten befassen wollen, die bisher noch nicht in ihrem Fokus waren – auch zur Verwendung im Latein- und Geschichtsunterricht. Viele Texte regen zum Nachdenken an und sensibilisieren, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger zu belehren.”
Natürlich muss und kann man auswählen bei den einzelnen Themenkreisen: „Trauer beim Verlust geliebter Tiere”, 15ff., „Heilige und Tiere”, 43ff., „Vegetarismus und Kritik an Tieropfern in der Antike”, 59ff., „Tierische Lieblinge der RömerInnen”, 71ff., „Martials Issa und ihre literarischen ,Welpen’”, 75ff., „Canis lupus familiaris – polyglott”, 83ff., „Plinius der Ältere über Tiere in der Naturalis Historia (‚Naturkunde’)”, 93ff., "Der Delphin – kein gewöhnlicher Zeitgenosse”, 121ff. – Den Intentionen der Autoren ist wenig hinzuzufügen außer der Tipp, es einmal mit dieser umfassend kommentierten, mit Vokabelhilfen und bibliographischen Angaben vorzüglich erschlossenen und zeitlich weit ausgreifenden Textsammlung zu versuchen, denn sie macht völlig andere Seiten lateinischer Literatur zugänglich und spricht heutige Schülerinnen und Schüler/Kinder zweifellos in ganz anderer Weise an als viele literarische Produkte von stadtrömischen Senatoren für ihresgleichen. Online zu finden ist überdies ein 40-seitiges, reich illustriertes Heft im pdf-Format mit schönen Arbeitsaufgaben zum Gratisdownload: https://kphil.ned.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/i_klassische_philologie/Arbeitsaufgaben.pdf
Kennen Sie den Begriff Epikedion bzw. Epikedium? Epikedien sind Trauergesänge, die während der Aufbarung und Bestattung der Leiche gesungen wurden. In der Antike gibt es als Besonderheit dieser Gattung auch Trauergedichte auf den Tod von Tieren, die sich als literarische Spielerei oder Parodie charakterisieren lassen Gabriele Kompatscher Gufler beginnt ihr Kapitel zur Trauer beim Verlust geliebter Tiere mit einem Trauergedicht auf ein Hündchen namens Pitulus, (möglicherweise) verfasst vom Abt Theoderich von St. Trond im 11. Jahrhundert. Durch intertextuelle Bezüge auf das Kurzepos Culex, das lange Zeit Vergil zugeschrieben worden ist, erhält es einen parodistischen Anstrich: „doch vielleicht hat der Autor diese literarischen Elemente sogar bewusst zu dem Zweck verwendet, um unter diesem Deckmantel seine Gefühle für ein Tier zum Ausdruck bringen zu können, ohne dafür Kritik zu ernten – ein Abt, der offensichtlich um einen Hund trauert, hätte sich wohl einer Vielzahl von Vorwürfen ausgesetzt, u.a. dem, dass er die Sorge und Liebe, die er dem Tier entgegenbringt, doch lieber Gott hätte entgegenbringen sollen” (S. 15). Ein Text also zu anregender und einfühlsamer Lektüre mit Interpretationspotenzial und vergnüglich zu lesen:
„Flete, canes, si flere vacat, si flere valetis,
flete, canes: catulus mortuus est Pitulus.”
„Mortuus est Pitulus, Pitulus quis?”
„Plus cane dignus.”
„Quis Pitulus?” „Domini cura dolorque sui.
Non canis Albanus, nec erat canis ille Molossus
sed canis exiguus, sed brevis et catulus.
Quinquennis fuerat, si bis foret ille decennis,
usque putes catulum, cum videas modicum. ...”
Auf das 62 Zeilen umfassende Epikedion folgen zahlreiche Paralleltexte zu Lektüre und/oder Interpretation. Geben Sie Ihren Schülerinnen und Schülern mit der Verwendung dieses Buchs die Gelegenheit, die Gattung Epikedion kennenzulernen!
Lassen Sie mich noch anfügen: Ich danke unserem Bugatti für viele und lange, die Gesundheit erhaltenden Spaziergänge – in 15 Jahren um mehr als die halbe Welt (!) – auf den weiten Wegen im Berliner Grunewald vor unserer Haustür. Ebenso für viele Stunden Schlaf neben meinem Schreibtisch, während ich am PC saß – bei der Entstehung dieses Heftes LGBB 3-2019 zum letzten Mal. So sei ihm an dieser Stelle ein Denkmal gesetzt!