Senecas Apocolocyntosis als kompetenzorientierte Textausgabe für die Oberstufenlektüre
„Qualis artifex pereo!“ (Suet. Nero, 49,1) Mit dieser ultima vox soll Kaiser Nero, eine der bekanntesten und ambivalentesten Gestalten der römischen Antike, sein Leben ausgehaucht haben. Die fiktiven letzten Worte seines Vorgängers und Stiefvaters Kaiser Claudius tauchen in der Vita des Sueton nicht auf, wohl aber in der Apocolocyntosis, der einzig erhaltenen menippeischen Satire lateinischer Literatur: „Vae me, puto concacavi me!“ (apocol. IV,3) Dieser Ausruf fasst in (umgangs-)sprachlich und inhaltlich präziser Weise das Thema der Satire zusammen: Die Parodie der Vergöttlichung des strohdoofen, stotternden und spielsüchtigen Kaisers Claudius.
Im Folgenden möchte ich die kompetenzorientierte Textausgabe „Von Kaisern und Kürbissen – Senecas Apocolocyntosis“ (auszugsweise) vorstellen, die im Rahmen meines lehramtsbezogenen Masterstudiums im Fach Latein aus meiner Abschlussarbeit hervorgegangen ist.
Bei der Konzeption der Textausgabe stand es im Vordergrund, die Parodie der Vergöttlichung des Kaisers Claudius (seines Charakters, seines äußeren Erscheinungsbildes, seiner Politik in Verbindung mit der Ironisierung gesellschaftlicher Aspekte der Kaiserzeit) sowie charakteristischer Merkmale antiker Gattungen (Epos, Tragödiendichtung, Geschichtsschreibung etc.) für Schüler/innen zugänglich zu machen. Der Fokus lag dabei vor allem auf der Entwicklung von „Literaturkompetenz“. Das in Brandenburg seit dem Schuljahr 2017/18 von den Schulen verbindlich umzusetzende Kompetenzmodell der Rahmenlehrpläne für die Sekundarstufe I lieferte hierfür eine Grundlage.
Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang der schwer greifbare Kompetenzbegriff bzw. der Begriff „Literaturkompetenz“, der für das Unterrichtsfach Latein viele auszubildende und bereits praktizierende Lehrkräfte vor Verständnisprobleme stellt. Als Empfehlung sei an dieser Stelle der 2015 im Forum Classicum erschienene Artikel „...und wo bleibt die Literatur? Gedanken zum Kompetenzerwerb im altsprachlichen Unterricht“1 erwähnt, in dem Stefan Kipf die „11 Teilkompetenzen literarischen Lernens“2 Kaspar Spinners aus der Deutschdidaktik überzeugend auf den lateinischen Literaturunterricht überträgt. Als besonders anschaulich erachte ich folgende sieben dieser Kompetenzen: „Perspektiven literarischer Figuren nachvollziehen“, „sprachliche Gestaltung aufmerksam wahrnehmen“, „literaturhistorisches Bewusstsein entwickeln“, „narrative und dramatische Handlungslogik verstehen“, „prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres gewinnen“, „literatur-historisches Bewusstsein entwickeln“ und „mit Fiktionalität bewusst umgehen“.
Eine kompetenzorientierte Textausgabe für die Oberstufenlektüre ist an bestimmte Forderungen bezüglich Aufbau, Aufarbeitung der lateinischen Textabschnitte und der Konzeption zugehöriger Aufgabenstellungen gebunden. Es sei hier auf den jüngst im Forum Classicum (4/2017) erschienenen Beitrag Hans-Joachim Glücklichs mit dem Titel „Forderungen an Textausgaben – Probleme von Textausgaben“ verwiesen, in dem diese Anforderungen kompakt beschrieben und kritisch hinterfragt werden. Einen wichtigen Teil machen Glücklich zufolge die „Art von Arbeitsaufträgen“ sowie deren „Reihenfolge“ aus.3 Meine Textausgabe „Von Kaisern und Kürbissen – Senecas Apocolocyntosis“ enthält den gesamten lateinischen Text des antiken Werkes, das sich grob in die drei Teile „Geschehen auf Erden“, „Verhandlungen im Himmel“ und „Urteil in der Unterwelt“ untergliedern lässt.4
Ausgangspunkt ist bekanntermaßen der Tod und die Vergöttlichung des Kaisers Claudius im Jahre 54 n. Chr. Nachdem im ersten Teil der Beginn eines neuen goldenen Zeitalters unter Nero (laudes Neronis, apocol. IV,1) angepriesen wird, begibt sich Claudius, einem stotterndem und hinkenden monstrum gleich (apocol. V, 2–3), zu den Pforten des Olymp und begehrt Einlass. Hercules, von seinem Vater Jupiter aufgrund seiner Erfahrenheit mit Monstern und Schauergestalten zur Erkundung des Eindringlings losgeschickt, erschrickt bei dem Anblick so sehr, dass er meint, seine 13. Aufgabe sei gekommen. Nichtsdestotrotz kann Claudius den Helden für seine Zwecke gewinnen; dieser bemüht sich nun in der Götterversammlung darum, dass Claudius im Olymp aufgenommen wird. Daraufhin beginnt eine große Diskussion, die vergleichbar mit einer römischen Senatsversammlung ist und in der Rede des Divus Augustus gipfelt (apocol. X–XI). Letzterer spricht sich aufgrund Claudius' Taten auf Erden5 entschieden gegen dessen Aufnahme im Olymp aus. Als Konsequenz wird Claudius von Merkur „am Kragen gepackt“ und in die Unterwelt geschleift (apocol. XII,1). Auf dem Weg dorthin erlebt Claudius sein eigenes Begräbnis, das in einem Klagelied (Nänie) über die Außen- und Innenpolitik des verstorbenen Kaisers im anapästischen Quaternar, einem nicht leicht zu entschlüsselnden Vermaß, seinen Höhepunkt hat. In der Unterwelt angelangt, wird schließlich über eine Strafe für Claudius in einem ironisierenden Gerichtsprozess verhandelt: Claudius wird erst dazu verurteilt, auf ewig mit einem bodenlosen Becher Würfel zu spielen und dann als Sklave an seinen Vorgänger Kaiser Gaius „Caligula“ abgetreten, der ihn wiederum an seinen Freigelassenen Menander übergibt (apocol. XV).
In der Textausgabe „Von Kaisern und Kürbissen“ sind vor dem jeweiligen Textabschnitt Arbeitsaufträge positioniert, die einen ersten Einblick in die Bereiche „Wortschatz“, „Sachwissen“ und „Grammatik“ geben sollen. Dem lateinischen Text selbst ist ein ad-lineam-Vokabelkommentar beigefügt. Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich schließlich unter einem Lernwortschatz-Kasten die kompetenzorientierten Arbeitsaufträge zur Interpretation des Textes.
Neben diesem an aktuellen kompetenzorientierten Lektüren unterschiedlicher Verläge orientier-tem Aufbau6 sind an verschiedenen Stellen Exkurse eingefügt. Diese haben sich vor allem aus Fragestellungen bezüglich der Apocolocyntosis ergeben, die auf fachwissenschaftlicher Ebene noch nicht geklärt sind. So bietet der Exkurs „Poetry-Slam“7 beispielsweise neben seinem Ge-
genwartsbezug die Möglichkeit, auf die Publikationsumstände und somit die Datierung der Satire einzugehen. Auch bot es sich an, die Frage „War Seneca wirklich der Autor der „Apocolocyntosis“?“ zu einem Exkurs in die Arbeit einer/s klassischen Philologin/en einzubetten, da Seneca als Autor der Apocolocyntosis jüngst von Niklas Holzberg stark infrage gestellt wurde.8
Die Behandlung dieser Fragestellungen, die sich aus dem Werk ergeben, die Beschäftigung mit antiken Literaturgattungen (Epos, Rede/Rhetorik, Tragödie, Lyrik u.v.m.), die Vermittlung geschichtlichen und kulturellen Wissens über die Kaiserzeit sowie der unterhaltsame Charakter der Erzählung bieten für den Lateinunterricht die Chance, die lateinische Sprache für Schüler/innen zu einem Genuss werden zu lassen.
Mit der Textausgabe „Von Kaisern und Kürbissen – Senecas Apocolocyntosis“ wurde also der Versuch unternommen, das überaus große Potenzial dieser Satire voll und mit Freuden auszuschöpfen, um Schüler/innen die in den Rahmenlehrplänen der Bundesländer neu formulierten Kompetenzstandards vor allem im Bereich der lateinischen Literaturkompetenz zu vermitteln.
Literatur
GLÜCKLICH, Hans-Joachim (2017): Forderungen an Textausgaben – Probleme von Textausgaben, Forum Classicum 4/2017, S. 227–234.
HOLZBERG, Niklas (2016): Racheakt und „negativer Furstenspiegel“ oder literarische Maskerade? Neuansatz zu einer Interpretation der Apocolocyntosis, Gymnasium 123, S. 321–339.
KIPF, Stefan (2015): ... und wo bleibt die Literatur? Gedanken zum Kompetenzerwerb im altsprachlichen Unterricht, Forum Classicum 2/2015, S. 70–83.
RIEMER, Peter/WEISSENBERGER, Michael/ZIMMERMANN, Bernhard (32013): Einführung in das Studium der Latinistik, München.
SCHÖNBERGER, Otto (1990): Lucius Annaeus Seneca APOCOLOCYNTOSIS DIVI CLAUDII. Einführung, Text und Kommentar, Würzburg.
SPINNER, Kaspar H. (2013): Literaturunterricht in allen Schulstufen und -formen: Gemeinsamkeiten und Besonderheiten, in: Literarische Bildung im kompetenz-orientierten Deutschunterricht, hrsg. v. RÖSCH, Heidi, Stuttgart, S. 93–112.
WEINREICH, Otto (1923): Senecas APOCOLOCYNTOSIS. Die Satire auf Tod/ Himmel und Höllenfahrt des Kaisers Claudius, Einführung, Analyse und Untersuchungen, Übersetzung, Berlin.
Bildnachweise
Codex Sangallensis: [URL:https://de.wikipedia.org/wiki/Apocolocyntosis#/media/File:Seneca_the_Younger,_Apocolocyntsis,_St._Gallen,_569.jpg, zuletzt abger. am 23.05.2018]
Poetry Slam:
– Bühnenauftritt
[URL:https://www.google.de/search?client=firefox-b&biw=1800&bih=943&tbm=isch&sa=1&q=poet
y+slam+publikum&oq=poetry+slam+pub&gs_l=psy-ab.1.0.0j0i24k1.13782.21100.0.22204.5.4.1.0.
.0.952.1453.0j3j6-1.4.0....0...1.1.64.psy-ab..0.4.1458...0i30k1._v4tnrhfAoQ#imgrc=-X_ILcoKTyO1eM:,
zuletzt abger. am 23.05.2018]
– Gemälde von Jean-Joseph Taillasson
[URL:https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:VirgilAeneidVI.jpg, zuletzt abger. am 23.05.2018]
Textkritische Ausgabe der Apocolocyntosis
L. Annaei Senecae, AΠΟΚΟΛΟΚΥΝΤΩΣΙΣ, ed. RONACALI, RENATA, Leipzig 1990.