Wie schwierig ist es eigentlich für jeden Einzelnen, etwas gegen die Pandemie zu tun? Der Philosoph vergleicht in diesem Dialog das Virus mit einem Serienmörder. Die Idee zu diesem Dialog kam mir durch die Serie »The Assassination of Gianni Versace«, in der das Leben des Serienmörders Andrew Cunanan erzählt wird. Ich habe den Dialog im Februar 2021 geschrieben, als die Kontaktregeln noch deutlich strenger als heute waren.
Wie das Virus zu einem Serienmörder werden konnte
Philosoph: Mein armer Schüler, schon wieder sehe ich dich mit einem verdrießlichen Gesichtsausdruck durch die fast menschenleere Straße laufen. Was bedrückt dich, mein Junge?
Schüler: Ich frage mich, warum viele Menschen, die ich beobachte, noch immer keine angemessene Vorsicht gegenüber dem pandemischen Virus an den Tag legen. Wenn sie sich zufällig draußen treffen, halten sie den Abstand meist nicht ein, manche umarmen sich gar. Dabei muss ihnen doch klar sein, wie gefährlich es ist und welch große Bedrohung es für unsere Gesellschaft als Ganzes darstellt. Mir scheint, die meisten Menschen sind sehr ignorant gegenüber dieser Gefahr. Warum nur?
Philosoph: Du beobachtest gut, aber an den Schlussfolgerungen, die du daraus ziehst, müssen wir noch arbeiten.
Schüler: Du meinst also nicht, dass viele Menschen sich ignorant verhalten?
Philosoph: Doch, aber im Gegensatz zu dir glaube ich, die Gründe dafür zu kennen. Und die Schuld liegt in meinen Augen nicht nur bei den Menschen.
Schüler: Erkläre es mir bitte.
Philosoph: Sehr gerne. Sag mir bitte: Wie stellst du dir einen Serienmörder vor?
Schüler: Nun, in meiner Vorstellung sieht er ganz grausig aus. Er ist groß, bärtig, schmutzig, grob in seinem Verhalten und hält ein krummes Messer in der Hand.
Philosoph: Würdest du sagen, dass die meisten Menschen ein solches Bild von einem Serienmörder haben?
Schüler: Gewiss.
Philosoph: Das Problem daran ist aber: Wenn ein Serienmörder so aussehen würde, wie du ihn beschreibst, dann gäbe es überhaupt keine Serienmörder.
Schüler: Warum?
Philosoph: Nun, alle Leute wären ja vor einem solchen Menschen gewarnt und würden sich entsprechend schützen. Für die Polizei wäre es außerdem ein Leichtes, ihn zu finden und zu verhaften. Ein solcher Mensch könnte höchstens eine sehr geringe Zahl an Menschen töten, wenn überhaupt, ehe er gefasst wird. Dann wäre er per definitionem kein Serienmörder.
Schüler: Ich verstehe, aber was hat das mit unserem Virus zu tun?
Philosoph: Dazu komme ich jetzt. Stell dir einmal vor, ein Virus würde bei jedem Menschen, den es befällt, ganz arge Symptome hervorrufen und diesen Menschen auch recht schnell töten. Infizierte Menschen würde man leicht erkennen und isolieren können, und diese Menschen wüssten auch mit Sicherheit, dass sie infiziert sind. So würde das Virus höchstens ein paar Menschen befallen, könnte dann aber schnell identifiziert und zuverlässig eingedämmt werden. Nein, so ein Virus klingt in der Theorie zwar deutlich schlimmer als unser pandemisches Virus, hat in der Realität aber keine Aussicht auf Erfolg. Stimmst du mir soweit zu?
Schüler: Ja, deine Argumentation scheint mir richtig.
Philosoph: Kommen wir zu unserem Serienmörder zurück. Ein solcher Mensch muss sich, um seine Mordlust zu befriedigen, wohl verstellen. In der Tat ist es so, dass viele Serienmörder äußerlich ganz unscheinbar sind, sogar oft gebildet und höflich. Wenn man mit ihnen in Kontakt kommt, dann möchte man überhaupt nicht glauben, dass sie viele Menschen getötet haben könnten. Sie machen sich also das Bild zunutze, das die Menschen von einem Serienmörder haben. Selbst wenn in den Nachrichten vor einem derartigen Verbrecher eindringlich gewarnt wird, verhalten sich die Menschen also arglos gegenüber jedem, der ihnen freundlich und gebildet erscheint. Sie haben zwar im Hinterkopf, dass in den Nachrichten die Warnung kam – aber sie denken beim Anblick dieses freundlichen Menschen nicht daran.
Schüler: Wenn ich dich unterbrechen darf – das Erfolgsrezept des pandemischen Virus ist es also, dass es seine Symptome nicht gleich offenbart? Es versteckt sich in vielen Fällen hinter einer Fassade von milden Krankheitserscheinungen, um nicht erkannt zu werden und dann im richtigen Moment zuschlagen zu können?
Philosoph: Ganz recht, nur so kann es meiner Ansicht nach zu einem pandemischen Virus werden. Um aber auf deine Sorgen zurückzukommen: Würdest du den Menschen einen Vorwurf machen, die den Serienmörder, vor dem ja in den Nachrichten ausdrücklich gewarnt wurde, nicht erkennen und ihm Tür und Tor öffnen?
Schüler: Nein, ich hätte Nachsicht mit ihnen, denn mir könnte es genauso gehen. Ich selbst würde mich nicht in der Lage sehen, ständig gegenüber allen Fremden misstrauisch zu sein, obwohl ich eigentlich weiß, dass es sich bei einem von ihnen um den Mörder handeln könnte. So habe ich mich gerade selbst des Tatbestands überführt, dessen ich vorhin die anderen bezichtigt habe.
Philosoph: Das nenne ich mal eine gute und humane Schlussfolgerung! So müssen wir uns alle bemühen, misstrauisch gegenüber dem Virus zu sein, und insbesondere lobend anerkennen, wenn diese Bemühungen erfolgreich sind; andererseits müssen wir aber Nachsicht haben, wenn sie fehl-schlagen. Dies bedeutet allerdings keineswegs, mit
denjenigen Verständnis zu haben, welche die Maßnahmen insgesamt als sinnlos abtun, denn das sind sie gewiss nicht! Es ist nur eine gewaltige Herausforderung an unsere Disziplin, sich immer und überall daran zu halten. Wenn es einmal schief geht, dann wissen wir: Es lag in den meisten Fällen an der Arglosigkeit. Wären wir niemals arglos, gäbe es keine Pandemie.
Übrigens haben Serienmörder und das pandemische Virus noch eine Sache gemein. Wir haben ja schon die äußere Erscheinung des Serienmörders mit den milden Symptomen verglichen, die das Virus meist auslöst. Doch ich frage dich nun: Ist es das Ziel eines Serienmörders, alle Menschen zu töten?
Schüler: Nein, sicher nicht. Entweder tötet er wahllos einige, oder er verfolgt ein gewisses Schema.
Philosoph: Richtig. Denn wenn er versuchen würde, alle Menschen zu töten, müsste er recht schnell unweigerlich gefasst werden. Jeder Mord geht ja mit einem gewissen Risiko einher, und je mehr Morde er begeht, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Polizei ihn festnehmen kann. Nein, der Mörder ist vielmehr freundlich zu den meisten Menschen! So kann er sich ihr Vertrauen erschleichen und einen besseren Zugang zu denjenigen erhalten, die er zu töten gedenkt. So verursacht auch das Virus bei vielen Menschen überhaupt keine Symptome, damit sie es dorthin weiter-tragen können, wo es wirklich zuschlagen kann.
Schüler: Mir scheint, dass du Recht hast. Ich werde in Zukunft mehr Nachsicht mit anderen Menschen haben, da ich weiß, dass mir der gleiche Fehler wie ihnen unterlaufen könnte. Ich weiß aber gleichzeitig, wie wichtig es ist, dass ich selbst versuche, solche Fehler im Umgang mit dem Virus zu vermeiden, und ich werde auch andere freundlich auf diese Gefahren aufmerksam machen.