Grex Potsdamiensis

Am 2.7.2015 gab es wie gewohnt eine Aufführung beim Sommerfest des Institutes in Potsdam. Das Stück war ein amüsanter Gang durch die antike Literatur und Kulturgeschichte von der Frühzeit bis in die Spätantike.

1 Nach dem neuen Berliner Rahmenlehrplan für die Klassenstufen 1–10 muss das sog. Basiscurriculum Sprachbildung2 in allen Fächern umgesetzt werden, um die angestrebte bildungssprachliche Handlungskompetenz erreichen zu können: „Sprachbildung ist […] Teil von Bildung insgesamt und Aufgabe aller an Schule Beteiligten.“ (SenBJW) 2015, 4) Sprachbildung bezeichnet in diesem Zusammenhang „systematisch angeregte Sprachentwicklungsprozesse aller Schülerinnen und Schüler […]. Sie erfolgt nicht beiläufig, sondern gezielt, indem die Lehrkraft geeignete Situationen aufgreift, sprachlich bildende Kontexte plant und gestaltet. Hierzu gehört auch die Vermittlung von Strategien, die das Hör- und Leseverstehen sowie das Erfassen von Texten unterstützen.“ (Sen BJW 2015, 12) 

Für den Lateinunterricht (LU) ergeben sich bemerkenswerte Anknüpfungsmöglichkeiten an die vier Bereiche des unten aufgeführten Kompetenzmodells, nämlich Interaktion, Rezeption, Produktion und Sprachbewusstheit. 

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Abb. 1: Modell zur Bildungssprachlichen Handlungskompetenz (Quelle: SenBJW 2015, 5) 

Im Bereich Interaktion liefert der LU wenige spezifische Beiträge, wenn sich bildungssprachliche Handlungskompetenz „durch aktive Teilnahme an Diskussionen“ (SenBJW 2015, 5) ausbilden soll. Aber schon im Bereich der Rezeption kann der LU aufgrund seiner didaktischen und methodischen Charakteristika einen wichtigen Beitrag zur Sprachbildung leisten, und zwar insbesondere beim Leseverstehen. Hierbei handelt es sich überwiegend um Informationsentnahme und -nutzung sowie um damit verbundene Lesetechniken und -strategien. Diese Form der Rezeption ist auch für den LU prägend. So kommt der Erschließung lateinischer Texte im LU eine zentrale Bedeutung zu, und zwar auf methodisch abgesicherter Grundlage (etwa durch den Einsatz transphrastischer Verfahren). Es ist davon auszugehen, dass ein entsprechend ausgerichteter Lateinunterricht, in dem Texterschließung explizit zum Unterrichtsthema wird, sprachbildende Potenziale entfalten kann. Auch im Bereich Produktion kann der LU einen spezifischen Beitrag zur Sprachbildung leisten: Hier wirkt sich die prägende Rolle der Übersetzung lateinischer Texte ins Deutsche aus, handelt es sich doch um eine Form schriftlich gestützter Textproduktion, wenn die Schüler bei der Rekodierung geeignete Wörter und Ausdrücke suchen, kritisch prüfen, auswählen und kreativ, d.h. zielsprachenorientiert anwenden. Im Bereich Sprachbewusstheit kann der LU seine besondere Stärke als Reflexionssprache zur Anwendung bringen. 

Wenn „Wörter und Formulierungen der Alltags-, Bildungs- und Fachsprache“ (SenBJW 2015, 10) differenziert werden sollen, kann der LU durch grammatische Metasprache und eine bildungssprachlich bestimmte Produktion deutscher Texte einen wichtigen Beitrag leisten. Das Ziel „Wortbildungsmuster nutzen“ (SenBJW 2015, 10) wird durch die analytisch-reflexive Form der Sprachbetrachtung nachhaltig gefördert. Auch der Aspekt „Mehrsprachigkeit nutzen“ (SenBJW 2015, 10) kann im LU problemlos umgesetzt werden. So gehört beispielsweise die Erklärung von Fremd- und Lehnwörtern lateinischen Ursprungs zum methodischen Grundbestand des LU. 

Ein Ausblick auf die Praxis: Artikelverwendung im Lateinunterricht 

In Berlin gibt es bereits erste Versuche, Sprachbildungsmodelle in den schulischen Alltag zu implementieren. So wird derzeit am Humboldt-Gymnasium Tegel das Konzept LateinPLUS3 erarbeitet, in dem die Fächer Deutsch und Latein eine sprachbildende Servicefunktion für alle anderen Fächer übernehmen. Wie ein sprachbildend ausgerichteter Unterricht aussehen könnte, soll durch ein Fallbeispiel skizziert werden. 

Es handelt sich um eine Stunde, die in einer achten Klasse (3. Lernjahr Latein) dieses Gymnasiums durchgeführt und in der eine dezidiert sprachbildende Zielsetzung verfolgt wurde, und zwar am Beispiel der im Deutschen komplexen Artikelverwendung. Dabei geht es nicht nur darum, einen lateinischen Text ins Deutsche zu Übungszwecken zu übersetzen, etwa zur Vertiefung des Wortschatzes. Die unterrichtliche Arbeit ist vielmehr, wie man bereits an der Aufgabenstellung erkennen kann, explizit sprachreflektorisch ausgerichtet, wobei man sich die Andersartigkeit des Lateinischen zu Nutze macht: „Das Lateinische kennt keine Artikel. Zur besonderen Betonung stehen ggf. Demonstrativ- oder Possessivpronomina [zur Verfügung]. Deshalb musst Du beim Übersetzen ins Deutsche überlegen, ob Du einen bestimmten, unbestimmten, keinen Artikel oder sogar ein Possessivpronomen nutzt, um die richtige Aussage im jeweiligen Zusammenhang deutlich zu machen.“ 

Hierbei müssen die Schüler bewusste Entscheidungen treffen, und zwar auf der Basis ihres verfügbaren Regelwissens im Lateinischen und Deutschen, wie in der abschließenden Aufgabenstellung explizit hervorgehoben wird: „Übersetze die Sätze und überlege bei den unterstrichenen Wörtern genau, wie Du am sinnvollsten mit einem bestimmten oder unbestimmten Artikel, einem Possessivpronomen oder mit gar keinem weiteren Wort übersetzt.“ Dabei müssen die grammatische Metasprache adäquat verwendet und der jeweilige situative Kontext berücksichtigt werden, der bereits aus der entsprechenden Lehrbuchlektion bekannt ist. Es ist deutlich, dass dem expliziten Sprachvergleich hierbei eine zentrale Bedeutung zukommt. Erst durch den Vergleich werden die Schüler zur Reflexion angeregt, um ein Bewusstsein für die jeweils typischen Eigenheiten beider Sprachen zu entwickeln. Das gesamte Verfahren ist schriftsprachlich abgesichert, da eine adäquate zielsprachenorientierte Übersetzung schriftlich dokumentiert werden muss. 

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Abb. 2: Arbeitsbogen zum Artikelgebrauch (Quelle: Jens Augner, Humboldt-Gymnasium Berlin) 

Die Schüler beteiligten sich mit großem Engagement am Unterricht und setzten sich intensiv mit der disparaten Artikelverwendung auseinander, wie in einem Bericht der Berliner Tageszeitung „Der Tagesspiegel” vom 17.11.2015 anschaulich dokumentiert wurde: 

„‘Sum es est, sumus estis sunt‘: Jona hüpft vor den anderen Achtklässlern herum und skandiert die Konjugationsformen des Verbs ‚esse‘, also ‚sein‘. Seine Mitschüler sprechen mit, im Chor. So beginnt eine Lateinstunde am Humboldt-Gymnasium in Tegel – und so ähnlich hat man sich das ja auch vorgestellt: Pauken, auswendig lernen, herunterleiern von Deklinationen und Konjugationen einer komplizierten Sprache, die so gut wie kein Mensch mehr spricht. Doch der Eindruck täuscht. In dieser Unterrichtstunde wird diskutiert, geknobelt, gescherzt und vor allem: viel über die deutsche Sprache nachgedacht. Die Schüler sind konzentriert bei der Sache. Gruppenarbeit. Im Lateinischen gibt es keine bestimmten oder unbestimmten Artikel. Geht es in dem Satz ‚Lucius Caesius Bassus servum videt‘ also um ‚den Sklaven‘, ‚einen Sklaven‘ oder vielleicht ‚seinen Sklaven‘, den Lucius Caesius Bassus sieht? Die Schüler beugen sich über ihre Arbeitsblätter und diskutieren, was wohl am besten passt und wie sie das herleiten können. Eigentlich geschieht in diesem Unterricht aber genau das, was nach dem Willen der Senatsbildungsverwaltung und gemäß dem neuen Rahmenlehrplan künftig in allen Fächern passieren soll: Es wird verstärkt auf die Sprachbildung geachtet – Genauigkeit beim Lesen, Textverständnis, Wortschatz, Ausdruck.“