Der Philosoph beschäftigt sich neben aktuellen gesellschaftlichen Diskursen auch mit mehr oder weniger zeitlosen Themen. Hier gibt er eine Liebeserklärung an die seiner Ansicht nach beste Demokratie der Welt ab. Der Schüler ist verwirrt und versteht zunächst nicht, von welcher Demokratie der Philosoph spricht, aber zum Ende lüftet sich das Geheimnis.
Lob für die beste Demokratie der Welt
Philosoph: Wie schön, dich mal wieder zu Gesicht zu bekommen, mein lieber Schüler. Wohin des Weges?
Schüler: Ich habe mir ein Buch über Rhetorik bestellt und es gerade abgeholt.
Philosoph: Wie wunderbar! Dann kannst du mir in ein paar Wochen sicher so manches beibringen, was nützlich ist, um meine Worte klar zu wählen.
Schüler: Als ob gerade du das nötig hättest! Ich habe es mir angeschafft, weil ich vielleicht später einmal mich politisch betätigen möchte.
Philosoph: Ach, so ist das! Eine hervorragende Idee. Die Politik hat den Rat von Philosophen bitter nötig.
Schüler: Richtig, und mit meinen Kenntnissen möchte dazu beitragen, dass unsere wunderbare Demokratie noch schöner und besser wird.
Philosoph: Dabei gibt es doch schon eine vollkommene Demokratie, nur wirst du sie nicht in der Politik finden.
Schüler: Wie meinst du das? Meinst du unser Land?
Philosoph: Nein, ich rede nicht von unserer Heimat. Ich rede von einer Demokratie, die alle Men-schen betrifft und selbst durch ihre schlimmsten Feinde kaum zu zerstören ist; von einer Demokratie, an der alle automatisch teilhaben; kurz, ich rede von einer perfekten Demokratie.
Schüler: Eine schöne Utopie ist das!
Philosoph: Aber nein! Das ist keine Utopie. Stell dir vor, dass alle Menschen in gleichem Maße daran beteiligt sind, die Gesetze dieser Demo-kratie zu bestimmen. Niemand ist davon ausgeschlossen, und auch, wenn es zwischen manchen Leuten unterschiedliche Meinungen oder Interpretationen der Paragraphen gibt, so können sie sich doch im Großen und Ganzen auf eine einheitliche Linie einigen. Die wenigen unterschiedlichen Auffassungen einzelner Gesetze werden toleriert; mehr noch, manche neuen Ideen werden zum Anlass genommen, alte und nicht mehr brauchbare Dinge zu ersetzen.
Schüler: Das hört sich ja wirklich phantastisch an, aber zeig mir bitte die Demokratie, die so funktionieren soll.
Philosoph: Du wirst es gleich sehen, wenn ich mit dem Bild, das ich in deinem Kopf zeichnen möchte, fertig bin. Nun, die Gesetze werden von allen Menschen gestaltet, aber wer schreibt sie nieder? Das können nun wirklich nicht alle machen! Das gäbe ein schönes Chaos! Deshalb wurden einige Menschen ausgewählt, die sich durch ein besonders gutes Verständnis der Regeln dieser Demokratie auszeichnen. Diese Menschen nun schreiben die Gesetze nieder, die sich alle anderen miteinander ausgedacht haben. Es ist dabei sehr wichtig, dass die Experten die Gesetze nicht bestimmen, sondern sie nur niederschreiben und in manchen Fällen, die gesellschaftlich umstritten sind, eine Empfehlung aussprechen. Sie veröffentlichen die Gesetze dieser Demokratie also, besitzen aber nur eine sehr eingeschränkte Macht, was ihre Gestaltung angeht. Denn in einer Demokratie geht, wie wir wissen, alle Macht vom Volk aus.
Schüler: Das scheint mir eine wahrhaft vollkommene Demokratie zu sein.
Philosoph: Ja, und in der Natur dieser Demokratie liegt es, dass sie einem stetigen Wandel unterworfen ist, denn tagtäglich wird von allen Menschen auf der Welt an ihr gefeilt und geschliffen, bis sie ihnen noch schöner erscheint; dann hat wieder jemand anderes eine neue Idee, und das Ganze beginnt von vorn.
So kommt es, dass diese Demokratie ständig ihr Gesicht verändert, aber immer nur ganz leicht. Also erkennt man sie von gestern auf heute ganz mühelos wieder. Blickt man aber in ihr Gesicht von vor mehr als tausend Jahren, so hat sie sich so stark verändert, dass sie den Menschen von heute vollkommen unbekannt ist und sie kein einziges ihrer Gesetze kennen. Es ist aber zu Forschungszwecken durchaus möglich, diese alten Gesetze zu erlernen und sie mit den heutigen zu vergleichen.
Schüler: Gibt es denn Feinde dieser Demokratie, oder wurde einmal der Versuch unternommen, sie zu zerstören?
Philosoph: Ja, ständig. Es gab mal mehr, mal weniger erfolgreiche Versuche, aber es hat nie funktioniert. Diese Demokratie ist so stark, dass man sie niemals ganz zerstören kann. Man kann sie schwächen, aber danach kommt sie noch viel stärker zurück.
Schüler: Um was handelt es sich denn nun? Ich kann mir immer noch keinen Reim darauf machen.
Philosoph: Ich gebe dir einen Hinweis: Wir haben in den letzten Minuten die Gesetze dieser Demokratie die ganze Zeit über angewendet; es ging überhaupt nicht anders.
Schüler: Wir haben miteinander gesprochen. Ist es das, was du meinst?
Philosoph: Richtig! Die einzige vollkommene Demokratie dieser Welt ist die Sprache. Lass dir die Dinge, die ich eben gesagt habe, vor diesem Hintergrund noch einmal durch den Kopf gehen; dann wirst du sehen, wie recht ich damit habe: Alle Menschen wenden jeden Tag die Sprache an. Keine einzige Person hat sich jemals alleine die Regeln einer Sprache ausgedacht, sondern jede Sprache der Welt ist in der gemeinsamen Verwendung durch ein Kollektiv entstanden. Es gab zwar von einzelnen Menschen Versuche, eine Sprache künstlich zu konstruieren, aber das hat nie funktioniert. Ferner beschreiben die gängigen Grammatiken und Wörterbücher nur die Regeln, also die Gesetze der Sprache, legen sie aber selbst nicht fest. Nur in einigen strittigen Fällen geben sie eine Empfehlung ab.
Was richtig ist und was nicht, bestimmt ausschließlich das Volk; es gibt kein übergeordnetes Gesetz, welches den einen Satz als falsch und den anderen als richtig markieren würde. Und wenn du einmal siehst, dass Wörterbücher und Grammatiken ständig neu bearbeitet werden, dann wirst du auch verstehen, weshalb ich vorhin meinte, dass sich die Gesetze immerzu ändern. Diktaturen versuchen immer wieder, in gewissem Maße in die Gesetze der Demokratie der Sprache einzu-greifen, aber auf lange Sicht ist das nie gelungen.
Schüler: Da hast du mir ja wieder etwas zum Nachdenken an die Hand gegeben! Bis zum nächsten Mal.
Die hier zu lesenden Texte stammen aus einem kreativen Schreibprojekt, das ich im Dezember 2020 begonnen habe und noch immer mit Freude fortführe. Das Prinzip ist denkbar einfach: Ich habe versucht, den Stil philosophischer Dialoge aus der Welt der Klassischen Philologie auf unsere moderne Welt mit aktuellen Themen und Problemen zu übertragen. Dialoge waren und sind wunderbar geeignet, um Gedanken und Meinungen auszutauschen, um zu überzeugen und um zu streiten.
Als Medium für meine Dialoge dienen ein namentlich nicht genannter Philosoph mit einem ebenso anonymen Schüler, wobei der Philosoph durch geschicktes Fragen und unkonventionelles Denken die Ansichten seines Schülers infrage stellt oder verwirft. Natürlich denkt man hier sogleich an Sokrates, den Platon in seinen Dialogen ja genau dies tun lässt. Und ja, selbstverständlich habe ich mich von den sokratischen Dialogen für die Gestaltung meiner Texte inspirieren lassen.
Auf die Idee dafür bin ich allerdings nicht durch die Lektüre von Platons Schriften gekommen, sondern durch den Satiriker und Philosophen Lukian von Samosata. Nachdem ich mich für meine Masterarbeit eingehend mit seiner Person befasst und einige seiner Schriften gelesen hatte, gefielen mir seine Phantasie, seine scharfe Beobachtungsgabe und sein beißender Humor so gut, dass ich mehr von ihm lesen wollte. Seine Texte haben mich dazu gebracht, die Ideen zu entwickeln, die der Philosoph in meinen Dialogen präsentiert.
Lukian sah als Sophist und Satiriker so gut wie alles mit einem zwinkernden Auge, auch dann, wenn er über ernste Themen sprach. Ihm war sehr gut bewusst, dass sich mit den richtigen (oder richtig vorgebrachten) Argumenten so gut wie alles begründen lässt. Es war mir daher beim Verfassen der Dialoge wichtig, auch diesen Aspekt zu berücksichtigen.
Die Ansichten „meines“ Philosophen sind also nicht zwingend übereinstimmend mit meinen eigenen. Das klingt wie eine juristische Spitzfindigkeit, soll aber dem Umstand Rechnung tragen, dass „mein“ Philosoph die Dinge so beschreibt, wie man sie sehen könnte, aber nicht muss. Er bietet seinem Schüler Perspektiven, und das ist das Beste, was ein Lehrer tun kann.