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Cover Grataloup Geschichte der Welt. Ein AtlasChristian Grataloup, Die Geschichte der Welt. Ein Atlas. Einführung von Patrick Boucheron. Aus dem Französischen von Martin Bayer, Katja Hald, Anja Lerz, Reiner Pfleiderer und Albrecht Schreiber. 640 S., durchg. bebildert, 17 x 24 cm, geb. mit SU. C.H.Beck, München 1. Aufl. August 2022, 6. Auflage März 2023, 39,95€, auch als e-book erhältlich – Lizenzausgabe WBG Edition 2023. ISBN 978-3-534-27558-8,  33,60 € Nur für Mitglieder 


Was ist höher zu bewerten, wenn es um die Qualität eines neuen gewichtigen Sachbuches geht (640 Seiten, 1672 gr, 37 mm dick): die Tatsache, dass es nach kaum einem halben Jahr bereits die 6. Auflage erreicht hat (und jetzt zusätzlich in Lizenz bei wbg Edition erscheint) oder die Beobachtung, dass die Kritik mit großem Lob nicht spart? Ein Buch mit hohem ‚Wow!‘-Faktor, heißt es da, es sei ein geniales Nachschlagewerk, hochspannend, monumental und vielschichtig, ein unverzichtbares Instrument, um die Geschichte der Welt zu verstehen, der erste Atlas für das Zeitalter der Globalgeschichte, die exzellenten infographischen Karten und klugen Begleittexte werden hervorgehoben, hinter jeder Karte verberge sich eine ganze Bibliothek.

Dieser moderne Atlas der Weltgeschichte (Originalausgabe Atlas historique mondial, 2019, Les Arènes/L’Histoire) bringt die Geschichte der Menschheit auf ungewöhnliche Weise ins Bild. Von den Mesopotamiern und alten Ägyptern, den Gesellschaften der Alten Welt (Kap. 4 und 5, S. 61-242),  bis zur Machtentfaltung Chinas im 21. Jahrhundert und dem Klimawandel stellt Christian Grataloup jede Karte mit kurzen Begleittexten in ihren jeweiligen welthistorischen Kontext. So kombiniert das opulente, zum Schmökern einladende Werk neueste globalhistorische Erkenntnisse mit einer attraktiven und regelrecht spannenden Kartographie.

Grataloup Der Schwarze Tod S. 136

Autor ist Christian Grataloup, Professor em. an der Universität Paris Diderot, er gilt als „der größte Historiker unten den Geographen“, und Patrick Boucheron, Professor am Collège de France, verfasste die Einleitung; er zählt zu den renommiertesten Historikern Frankreichs. Das von ihm herausgegebene Werk „L’Histoire mondiale de la France“ war in Frankreich ein Bestseller. Grataloup wirkte an zahlreichen Publikationen mit u.a. „Geohistory of Globalization“ (2015) und „The Global Atlas“ (2014). Bei der WBG/Theiss erschien von ihm Die Erfindung der Kontinente. Eine Geschichte der Darstellung der Welt (Aus dem Franz. von Andrea Debbou. 2021. 256 S. mit 140 farb. Abb. und Karten). Christian Grataloup hat sich in Weltkarten und Atlanten von der Antike bis heute auf Spurensuche begeben. Er zeigt in „Die Erfindung der Kontinente“ (L'invention des continents et des océans, 2020), wie unterschiedlich Händler, Seefahrer und Kolonialherren die Welt betrachtet haben, und warum die Darstellung der Erde nicht so eindeutig ist wie gedacht. Er stellt dar, wie sich die Kartografie seit den Zeiten, wo das Paradies noch einen festen Platz auf der Mappa Mundi hatte, verändert hat, und stellt auch unsere modernen Ansichten in Frage. Ein Bildband, der die politische und kulturhistorische Bedeutung von Kartografie und Geografie begreiflich macht!

Grataloup Erdbeben S.172 173 doppel

Die Grundidee dieses Weltatlas ist es nicht, so viele historische Details wie möglich in eine Karte zu packen, sondern die großen Linien der Globalgeschichte von den Anfängen der Menschheit bis heute mit Hilfe von Karten zu veranschaulichen. Dabei werden neben den klassischen Themen der historischen Kartographie auch viele Aspekte aufgenommen, die in traditionellen Atlanten für gewöhnlich nicht zu finden sind. Schon einige Beispiele mögen die Neugier wecken: S. 58f: Das Neolithikum in Afrika (5. bis 1. Jahrtausend v.Chr.), S. 82 f.: Die geopolitische Lage im Mittelmeerraum (Ende 3. Jh. v.Chr.), S. 102f.: Die Seidenstraße (bis zum 7. Jh.), S. 136f. Der Schwarze Tod (Mitte14. Jh.), S. 146–149: Russlands Wurzeln (8.–16. Jh.), S. 164f.: Romanik und Gotik, S. 166f.: Das Aufblühen der Universitäten, S. 172f.: Erdbeben im mediterranen Raum im Mittelalter,S 204f.: Das urbane Italien (13.–15. Jh.), S. 226f.: Die Handelsrouten für Zucker im 15. Jh., S. 232f.: Die Renaissance (15.–16. Jh.),S. 236f.: Italiens Einfluss auf Europa (15.–18. Jh.). Neben klassischen Karten zu historischen Begebenheiten auch Karten zu: Klimawende, Migration im 20. Jahrhundert, Arabischer Frühling, Die Guerillabewegungen in Lateinamerika, Das Schmelzen der Polkappen, Die Konventionen zum Schutz der Weltmeere und viele mehr.

Grataloup Romanik und Gotik S. 164

In seiner Einleitung schreibt Patrick Boucheron: „Ein Atlas ist immer auch eine Einladung zu reisen, und dieser hier macht uns die Reise, indem er den bedeutenden Sehenswürdigkeiten treu bleibt und dennoch viele Überraschungen bereithält, sehr angenehm. Neben dem, was wir von einem Atlas erwarten, stoßen wir immer wieder auch auf Unerwartetes. Wir finden uns wieder, entdecken mit Freude Altbekanntes, lernen jedoch auch viel Neues, Dinge von denen wir wussten, dass wir sie nicht wussten, und manchmal auch Dinge, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie nicht wussten. Eine solche Reise macht man am besten mit leichtem Gepäck, weshalb wir vor allem bemüht waren, einen gut zu handhabenden Gebrauchsgegenstand zu gestalten, der den mythologischen Namen, den man ihm gegeben hat, Lügen straft. Dieser Atlas soll kein Titan sein, der dazu verdammt ist, das Gewicht der Welt in Form geografischer Karten auf den Schultern zu tragen“(9). 

Unbedingt zu nennen sind die umfassenden Personen- und ein Ortsregister. Jede Karte ist erschlossen durch sehr gut lesbare historische Erklärungen, teils auch durch eine Chronologie der Dinge und Angaben zu den verwendeten Symbolen und Farben, sowie durch Verweise auf andere Karten. Die SZ sprach von einer Weltgeschichte, pastellfarbig grundiert. Seine Intentionen bei diesem Großwerk in 515 Karten formuliert Christian Grataloup so: „Warum sollte man heutzutage noch einen neuen historischen Atlas herausbringen? Ein derart ambitioniertes Projekt hat seit über vierzig Jahren niemand mehr gewagt. Aber wir leben in einer Welt, in der die Bilder dem Text mehr und mehr den Rang ablaufen und Kartografie- und Zeichenprogramme grafische Meisterleistungen vollbringen. Daher wollten wir ein Buch machen, das so viele schöne und zugleich präzise und gut lesbare Karten enthält wie nur irgend möglich. Vor allem aber wollten wir einen Atlas zusammenstellen, der dem 21. Jahrhundert gerecht wird“(8).


Cover Koenig MontaigneGaspard Koenig, Mit Montaigne auf Reisen. Abenteuer eines Philosophen zu Pferde (Notre vagabonde liberté. À cheval sur les traces de Montaigne), Übersetzt von: Tobias Roth, Galiani-Verlag, Berlin, 560 Seiten, ISBN: 978-3-86971-258-1 , 2022, 32,00 €


Es gibt eine experimentelle Archäologie, eine experimentelle Psychologie, eine experimentelle Literatur – und hier erfahren Sie von einer großen Reise im Experiment, eine Art Grand Tour von Frankreich über die Schweiz, Deutschland und Österreich nach Italien. Michel de Montaigne beschrieb seine Reise zu Pferde 1580 bis 1581 in einem  berühmten Reisetagebuch. Das Tagebuch selber aber war 178 Jahre lang verschollen, bis man es zufällig in einer alten Kiste fand. 440 Jahre später reitet der französische Philosoph Gaspard Koenig auf seinen Spuren. Daraus entstand ein lesenswertes Buch von über 550 Seiten: „Mit Montaigne auf Reisen. Abenteuer eines Philosophen zu Pferde“. Doch es wird nicht etwa in der Realität überprüft, ob 'es geht', was Montaigne vor Jahrhunderten vorgemacht hat. Vielmehr entsteht ein ganz eigener Reisebericht – absolut im Sinne Montaignes – über das Unterwegssein, die Freiheit der Langsamkeit und das Europa von heute; ein heutiger Franzose bewegt sich auf den Spuren eines großen Franzosen und Humanisten (immerhin des Namensgebers der Universität Bordeaux und der berühmteste Bürgermeister dieser Stadt).

Der Reiter im Experiment ist Gaspard Koenig, geb. 1982, ein französischer Philosoph und Essayist, einfühlsamer Reiter (151, 169ff.) und ehemaliger Redenschreiber für die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde. Er gründete 2013 die Denkfabrik Génération Libre und arbeitete an verschiedenen weltumspannenden Reportagen zusammen mit Le Point. Aus einer Weltreise zum Stand der Künstlichen Intelligenz entstand ,Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der KI’ (2021). Bei seiner Reise im Sattel und mit ,Desti’ am  Führzügel wird ihm bewußt, „dass diese Reise zu Pferd das genaue Gegenteil der Künstlichen Intelligenz darstellt. Sie ist nicht vorhersehbar, nicht programmierbar, nicht digitalisierbar. ... Was ich finden will, ist genau das, was man mit einer Suchmaschine nicht erwarten kann: unerwartete Umwege, undenkbare Begegnungen, unangebrachte Gedanken. Ein mildes Chaos ...“ (18).

Eben fiel schon der Name seiner sechs Jahre alten spanischen Stute Destinada, sorgfältig ausgesucht und fit gemacht, liebevoll 'Desti' genannt. Die Grauschimmel-Stute ist Transportmittel, Begleiterin und Inspiration für ihren Besitzer, bisweilen auch Objekt der Sorge (177f., 205, 226f., 315, 338–343).  

Während ein Flugzeug die Strecke Bordeaux – Rom in zwei Stunden zurücklegt, war Kœnig mit Destinada 20 Wochen unterwegs (Montaigne 17 Monate und 8 Tage). Schnell wollte er offensichtlich nicht ans Ziel kommen. Denn schon  Montaigne legte Wert darauf, unterwegs neben fremden Landstrichen die dort lebenden Menschen kennenzulernen. Auch Kœnig will auf seiner Reise herausfinden - und Destinada hat ihm dabei nachweislich geholfen - wie es sich heute in Europa lebt. Er wendet dabei die so genannte Montaigne-Methode (S. 49f) an: Er befragt die Menschen nie danach, was ihn interessiert, sondern lässt sie von ihrem Leben erzählen und hört auch dann mit Respekt zu, wenn sie Ansichten äußern, die er nicht teilt (Essays I,17). 

Kongenialer Übersetzer des Buches aus dem Französischen ist Tobias Roth, geb. 1985, freier Autor und Mitbegründer des Verlags 'Das Kulturelle Gedächtnis', Lyriker und Übersetzer. Roth wurde mit einer Studie zur Lyrik und Philosophie der italienischen Renaissance promoviert. Wir kennen ihn von seinem Prachtbuch 'Welt der Renaissance', aber auch als Übersetzer von Erasmus von Rotterdam: Der sprichwörtliche Weltbürger. Eine Auswahl aus den Adagia (2018),  Stephen Greenblatt: Die Erfindung der Intoleranz. Wie die Christen von Verfolgten zu Verfolgern wurden (2019), und natürlich als Mitautor (zusammen mit Asmus Trautsch und Melanie Möller) einer prächtigen, kommentierten und aufwendig gestalteten Ausgabe von Ovids großem Lehrgedicht über die Liebe, der Liebeskunst (2017).

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Michel de Montaigne brach gleich nach Erscheinen seiner berühmten Essays zu einer großen Reise auf, der wir sein „Tagebuch der Reise nach Italien“ von 1580 bis 1581 verdanken. Das Unterwegssein gehörte für Montaigne zum Dauer-zustand seiner Existenz, sein genauer Blick lässt sein Reisetagebuch zu einer vitalen kulturgeschichtlichen Quelle werden, wobei ihn Kunstführerqualitäten und Berichte über Sehenswürdigkeiten (auch wenn er bisweilen vor Ort danach fragt) weniger interessieren. Er schätzt die Kontakte zu den örtlichen Honoratioren, nimmt Landschaft, Leute und Lebensweisen in Augenschein - durchaus mit Hochachtung vor dem 'niederen Volk': Koch- und Tischsitten in den Gasthöfen haben es ihm angetan, vielfach äußert er sich unterwegs zur Schönheit der Frauen, er studiert die Bordelle von Venedig und Florenz oder erlebt Hinrichtungen und Teufelsaustreibungen. Kaum eine Gelegenheit zu Trink-, Bade-und Schwitzkuren lässt der reisende Humanist und Erkenntnissucher aus - gequält von seinem Nierenleiden; bei der Lektüre der viele Seiten langen Beschreibungen seines Zustands (203f.), seiner körperlichen Reaktionen und der Wirkungen oder Nichtwirkung seiner intensiven Kurmaßnahmen leidet der heutige Leser unvermeidlich mit. Allerdings: So gut wie auf dieser Reise fühlte er sich nie. 

Gaspard Koenig bricht - anders als Montaigne - im Süden Frankreichs beim Schloss Montaigne und dem noch erhaltenen Bibliotheksturm auf. „Man fragt mich, warum diese Reise? Auf eine einfache Frage ist unmöglich zu antworten. Ich druckse herum. Ich klammere mich an Montaigne. 'Ein Temperament, das begierig auf neue und unbekannte Dinge ist' (Essays III,9), klar. Aber diese Neugier ließe sich doch auch durch ein klassischeres Transportmittel vollauf befriedigen. 'Der andere Grund', erklärt Montaigne, 'warum mir diese Reisen und Spaziergänge so zusagen, liegt in der Abweichung von unseren gegenwärtigen Sitten' (Essays III,9). Am Ende des 16. Jahrhunderts wird Frankreich von Pestepidemien und Bürgerkrieg gegeißelt. Montaigne mag sein prüdes, behäbiges, gewalttätiges Zeitalter nicht“ (15f.). 

Wie Montaigne reist auch er dabei zu Pferd. Das klingt zunächst wie eine ehrgeizige Form des Eskapismus, nach Hape Kerkeling und dem Wunsch, „dann mal weg“ sein zu wollen. Dem Buch „Mit Montaigne auf Reisen“ liegt jedoch ein anspruchsvolles philosophisches Programm zugrunde: die Wiedereinübung des Individualismus. Ganz auf sich selbst gestellt versucht Kœnig, im Zufall der Begegnungen das eigene Leben und das selbst bestimmte Schicksal wiederzuentdecken. Ein Gegenprogramm zur Digitalisierung der Massen, deren Gefahren der Philosoph zuvor in seinem Bestseller „Das Ende des Individualismus“ beschrieben hatte. „Ich möchte den Menschen direkt begegnen, zufällig, ohne Filter durch Social Media. Ich suche den direkten Augenkontakt, der Vertrauen schafft. Das Pferd hilft mir dabei“, das sagt Gaspard Kœnig bei der Berliner Präsentation seine Buches. Kœnig lernt Frankreich und die Franzosen, das Land und seine Perspektiven auf seinem philosophischen Parforce-Ritt besser kennen. Zwei Drittel des Buches erzählen von Frankreich. Und nicht nur diese zwei Drittel habe ich interessiert und mit Gewinn gelesen; denn sie lassen sich wohl grundsätzlich auch auf unser Land übertragen. Gaspard Koenig sieht klar den Niedergang der kleinen Städte mit ihren verblassten Aufschriften auf verlassenen Geschäften und Cafés. Er verzweifelt an der Hässlichkeit der Vorstädte mit ihrer funktionalen Architektur, ihrer menschenfeindlichen Gestaltung, dem nie endenden Verkehr: Ein bedrohlicher Straßendschungel für Reiter und Pferd.

Über das Fazit seiner Reise schreibt Kœnig selbst: „In jedem Fall weiß ich jetzt, welchen Liberalismus ich verteidigen muss. Ganz gewiss nicht jenen Neoliberalismus, der entlang meines Weges Einkaufszentren, Pavillonsiedlungen und Betonblocks aus dem Boden schießen ließ; der die Bäume der Treidelpfade abgeschnitten und Videoüberwachungen in den Innenstädten installiert hat, der ein Zertifikat verlangt, wenn man nur über das platte Land spazieren will“ (533).

Vielmehr geht es ihm wie seinem historischen Vorbild Montaigne um einen Liberalismus, der auf dem Individuum gründet. Montaigne „bemüht sich, wie er sagt, keine schlafenden Gesetze zu wecken. Er lobt 'ein unberechenbares, unbehelligtes und lautloses Leben' (Essays III,10). Unberechenbar gleitend, wie eine Stute auf den Pflastersteinen Roms“ (532). Viele Themen Montaignes sind erstaunlich modern: Er ist einer der Ersten, die sich für Tierrechte einsetzten. Er ist ein großer Theoretiker des guten Reisens, für den das Unterwegssein an sich wichtiger ist als das Ankommen.

Beiläufig erfährt der Leser über die Sicherheit des Reisens (377f) und von den Problemen einer Reise zu Pferd heute. Es gibt Verletzungen, Druckstellen unter dem Sattel, Behandlungsbedarf und widersprüchlichen tierärztlichen Ratschlag. Nach kurzem hat er schon zwei Sets von Hufeisen verbraucht; das Problem dabei: durch das häufige Beschlagen hat Destinadas Huf (auch S. 51f.) nicht genügend Zeit nachzuwachsen und wird an den Rändern immer brüchiger. Die frappierende Lösung: Man muss Spitzen aus Wolfram anbringen. Dieses extrem widerstandsfähige Metall wird von einigen spezialisierten Hufschmieden verwendet, um Hufeisen (gegen den Abrieb auf Pflaster und geteerten Straßen) zu verstärken. Die Spitzen werden wie eine Art Spikes auf den Hufeisen aufgesetzt, um die Haftung zu erhöhen und die Reibung zu verringern (S. 177f.). Sehr informativ der Abschnitt über Montaignes Straßen; mit dem Tempo zu seiner Zeit kann Gaspard Koenig nicht mithalten (ein Aha-Erlebnis für den Leser heute!). Montaigne verzeichnet, dass er das Doppelte jener Strecke (54 km!) schaffte, die Gaspard Koenig zu schaffen hoffte: „Wir sind umgestürzten Bäumen ausgeliefert, den Brücken (sc. für Fußgänger gebaute Holzbrücken ohne Belastungsangaben, vgl. 187), den Umlaufgittern, den Stacheldrahtzäunen und anderen Dingen, die einem Reiter Albträume bereiten. Vor allem aber habe ich nur ein Pferd zu Verfügung“(43) . Montaigne wechselte sein Pferd an jeder Poststation, also mehrmals am Tag. Heutige Überlandstraßen sind nicht für Fußgänger geplant, noch viel weniger für Pferde gedacht (42). Aber Gaspard Koenig kommt auch zur Erkenntnis: „Das ist der Charme des Reisens zu Pferd: Man schlüpft zwischen den Abertausenden Gesetzen und Verordnungen hindurch, die unser Dasein einengen. Es genügt, im Sattel zu sitzen, um sich schlagartig über dem Gesetz, über den Gesetzen zu fühlen“ (156).

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Diese Erkenntnis gilt aber nur bis zur Schweizer Grenze. Auf die seine Reise vorbereitende Kontaktaufnahme mit der Stadtverwaltung Basel erhält er als einzige Antwort „eine Liste der Auflagen, die es zu beachten gilt, nicht zuletzt die Verpflichtung, die Ausscheidungen meines Reittiers aufzusammeln. Bei dieser Gelegenheit lerne ich das deutsche Wort kennen: 'Pferdeäpfel'. Wenn mich die Poesie dieses Ausdrucks auch berührte, so konnte ich mir doch nur schwer vorstellen, wie ich mich, bewaffnet mit Schaufel und Besen, zwischen den Schnellstraßen und den gewaltigen Eisenbahnbrücken über dem Rhein durchschlängeln sollte“(385). Kurz: Destinada schafft selbst nicht den Transport im Pferdeanhänger durch die Schweiz („das berühmte 'Carnet ATA'“, 386ff.). Hundert Seiten später ähnliche Probleme beim Transfer der Stute im LKW von Deutschland nach Italien; benötigt wird das TRACES-Zertifikat der Verwaltung des Herkunftslandes, das zu hitzigen Dialogen mit Dr. Gabriele, einer bayerischen Veterinäroberrätin, führt (444-456). 

Zum Schluß – nach dem letzten Teilstück von Bologna bis Rom – Montaigne reiste zu seiner Zeit kreuz und quer in dem, was wir heute „Italien“ nennen, und was damals entweder zum Deutschen Reich, zur Republik Venedig oder zum Kirchenstaat gehörte) kontrastiert Gaspard Koenig seine imaginierte Ankunft in Rom im Stil Montaignes (Der Papst 'reitet einen weißen Zelter, mit rotem Samt gezäumt, die Ränder mit Gold gefasst. Er sitzt ohne die Hilfen eines Knappen auf und durchläuft so sein einundachzigstes Jahr' Reisetagebuch, Rom; S. 520) und seine tatsächliche Ankunft: „Der Zugang zur Mitte des Platzes, rund um den Obelisken, wird mir sofort untersagt. Mehr braucht es nicht, um in mir unwiderstehlich die Lust anzufachen, genau dort hinzukommen“ (519ff.).                         –>  Weiter auf Seite 48

Gaspard Koenig bringt seine Stute (sie durfte im Garten der französischen Botschaft in Rom grasen) nach Frankreich zurück, er nimmt ihr (der Veterinär befindet, dass Desti in guter Form ist, 537) persönlich die Eisen ab und schickt sie barfuß auf die Weide: „Desti und ich kehren – abgemagert, aber munter – zu unserer jeweiligen Spezies zurück“(536f.). – „Ich werde mich bemühen, die unterwegs gelernte Methode auch auf das sesshafte Leben anzuwenden: die gerade Linie vermeiden, sich Umwege erlauben, mit der Zeit haushalten. Nach dem Vorbild Montaignes, der in seinen Turm zurückgekehrt ist, die Muße kultivieren und nicht das Nichtstun. Den Weg dem Ziel vorziehen. ... Und ich werde meinen Hut, meine Schuhe und mein Zaumzeug immer zur Hand haben. Denn inzwischen weiß ich, dass 'wenn meine Geschicke mich mein Leben nach meinem Belieben führen lassen, ich mich dafür entscheiden würde, es mit dem Arsch im Sattel zu verbringen' (Essays III,3)“.

Am Ende des Buches findet der interessierte Leser eine eher unkonventionelle Bibliographie  (Bücher, die mir geholfen haben, meinen Weg zu finden / Reiseführer aus der Zeit Montaignes / Rund ums Pferd / Rund um Themen, die mich unterwegs beschäftigt haben). Der Autor gibt ferner praktische Hinweise zur 'Route Montaigne' und stellt den detaillierten Routenverlauf auf seiner Webseite www.gaspardkoenig.com/montaigne im Format gpx samt zwei Dutzend Fotos und Notizen über Herbergen sowie die, „die Ross und Reiter freundlich aufnehmen“ (547) ins Netz. Ein Register mit über 200 Verweisen auf Montaigne-Zitate (Reisetagebuch und Essays) und Register ausgewählter Orte und Personen runden das kurzweilige, oft nachdenklich machende und spannend zu lesende Buch ab.


Cover volker Reinhardt MontaigneVolker Reinhardt, Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges. Eine Biographie, 330 S., mit 23 Abbildungen und 2 Karten, C. H. Beck Verlag München 2023, ISBN 978-3-406-79741-5 , 22,90€


Ich war unterwegs in einer eigentümlich unruhigen Gegend. Plötzlich stürzten, ehe ich es mich versah, drei oder vier Reitergruppen aus verschiedenen Richtungen auf mich zu, um mich gefangen zu nehmen. So wurde ich von fünfzehn oder zwanzig maskierten Edelleuten, denen eine Menge schwer bewaffnete Soldaten folgten, attackiert, festgenommen, in einen nahe gelegenen dichten Wald verschleppt, vom Pferd gerissen und ausgeplündert – meine Gepäckstücke wurden durchwühlt und meine Besitztümer einschließlich der Diener, Pferde und Ausrüstung an neue Besitzer verteilt.» Danach wurde über Lösegeld verhandelt, allerdings ergebnislos, denn der Überfallene war zu keinem Zahlungsversprechen zu bewegen, obwohl er das Schlimmste befürchtete. «Aber dann kam es zu einer plötzlichen und völlig unerwarteten Veränderung: Der Chef der Bande kam mit freundlichen Worten zu mir zurück, ließ meine unter seine Leute zerstreuten Habseligkeiten zusammensammeln und mir zurückgeben, was sich noch auffinden ließ, darunter meine Papiere. Doch das beste Geschenk, das sie mir machten, war meine Freiheit, alles Übrige war kaum von Belang.» Warum diese plötzliche Wendung? «Der Chef, der seine Maske abnahm und sogar seinen Namen nannte, sagte mir mehrmals, dass ich meine Freilassung meinem Gesicht sowie der Offenheit und Festigkeit meiner Worte verdankte, die zeigten, dass ich ein solches Missgeschick nicht verdient hatte“  (Vorwort S. 9; Essais III 12,1039, 1040).

Michel de Montaigne schreibt in Zeiten der blutigen Konfessionskriege in Frankreich. Als es die Kräfte der öffentlichen Ordnung nicht mehr gab, machte er offensichtlich die Erfahrung, dass Verteidigung den Angriff auf sich zieht und Angst Aggression erzeugt. Wie können Menschen unterschiedlichen Glaubens friedlich miteinander leben? Dies war eine der alles beherrschenden Fragen, denen die Essais, sein Hauptwerk, ihre Entstehung verdanken, oder auch:  Wie lässt sich die Neigung zu Güte und Mitgefühl im Menschen stärken und in den öffentlichen Angelegenheiten zur Geltung bringen? Ungefähr 40 Kilometer entfernt vom blutigen Geschehen in Bordeaux saß der 39-jährige Michel de Montaigne zu jener Zeit im frisch ausgebauten Bibliotheksturm seines Landschlosses, den man noch heute besuchen kann. Das Château de Montaigne, mehrfach umgestaltet. liegt in der Gemeinde Saint-Michel-de-Montaigne im Département Dordogne. 

Über diese Turmbibliothek schreibt er in seines Essays III,3:  „Die Form der Bibliothek ist rund (außer einem geraden Stück Wand, das für Tisch und Stuhl so eben ausreicht). Daher läßt sie mich mit einem Blick all meine in fünf Reihen übereinander aufgestellten Bücher sehen. Sie hat drei Fenster mit großartiger freier Aussicht und mißt sechzehn Schritt im Durchmesser. Im Winter halte ich mich nicht ständig darin auf, denn mein Anwesen liegt, wie schon sein Name Montaigne sagt, auf einem Hügel, und kein Raum darin ist stärker den Winden ausgesetzt als dieses Turmzimmer; doch gerade dass es abgelegen und ein bißchen mühsam zu erreichen ist, gefällt mir, weil es mir so die Leute vom Leib hält und die körperliche Anstrengung mir guttut. Hier also bin ich ganz zu Hause, hier suche ich ganz mein eigener Herr zu sein und diesen einzigen Winkel sowohl der ehelichen und töchterlichen als auch der gesellschaftlichen Gemeinschaft zu entziehen. Überall sonst bin ich Herr nur dem Namen nach, in Wirklichkeit redet mir jeder dazwischen. Arm dran ist meines Erachtens, wer bei sich zu Hause nichts hat, wo er bei sich zu Hause ist, wo er sich verbergen, wo er mit sich selbst hofhalten kann. Wie fein entlohnt doch der Ehrgeiz seine Diener, indem er sie zeitlebens einer Marktsäule gleich zur Schau stellt! Nicht einmal das Örtchen bietet ihnen einen Zufluchtsort“ (Übersetzung von Hans Stilett).

Der schreibende Schlossherr hatte bis 1570 das Amt eines Parlamentsrats in Bordeaux inne, war Katholik, zugleich aber überzeugter Anhänger der 'Versöhner-Partei'. Damit stand auch er auf der Abschussliste der Fanatiker. Die Essais stehen für eine damals völlig neuartige Textgattung – den Essay verstanden als kurze, geistreiche und subjektiv eingefärbte Gedankenversuchsanordnung. 

01 Schloss Montaigne

Jean-Jérôme Baugean, 1764–1819: Ansicht von der Südseite (um 1800), die Montaignes „Bibliotheksturm“ betont. © Wikimedia Commons

„Montaigne schrieb mit raffiniert choreografierter Unsystematik. Neben seinem verspielten, denkbar unprätentiösen Stil hat ihm die Überzeitlichkeit seines Denkens anhaltenden Nachruhm und unverwüstliche Zitierfähigkeit gesichert. Frappierend modern sind etwa seine Überlegungen zur Unbeständigkeit und Widersprüchlichkeit des Ichs, sein unermüdliches Plädoyer für Toleranz, seine Skepsis gegenüber Dogmen aller Art und seine Demontage eines allzu blauäugigen Humanismus, der meint, die menschliche Neigung zu Grausamkeit und Gewalt durch Bildung und moralische Ermahnungen unschädlich machen zu können. Auch für Reinhardt steht außer Zweifel, dass Montaignes Beobachtungen nach wie vor hochgradig anschlussfähig sind. Allerdings geht es dem Biografen ausdrücklich nicht darum, die Identifikationsbedürfnisse der Leserpsyche des 21. Jahrhunderts zu bedienen“ (M. Lieder, in: Zeit-Online, 06. Februar 2023). 

Da Montaignes Werk aus Reflexionen über seine Zeit und deren Unglücksfälle besteht, ja einen Reflex dieser Zeit bildet, lässt es sich ohne Einbettung in diese Zeit nicht verstehen. Das ist der Ansatz, den Volker Reinhardt durchgängig verfolgt. Ein aus seiner Geschichte herausgelöster Montaigne ist ein geistvoller und amüsanter, aber auch entkernter und unverbindlicher Aphorismen-Spender. Genau das aber wollte er nicht sein. Montaigne schrieb nicht aus Selbstverliebtheit von sich, sondern um sich in einer aus den Fugen geratenen Zeit seiner selbst zu vergewissern. Das Bild, das er von sich entwirft, ist ein kunstvoll konzipiertes Konstrukt.  Wie viel es mit dem 'echten' Montaigne zu tun hat, bleibt in vieler Hinsicht offen. Der Zweck seiner Selbstdarstellung besteht darin, die Botschaften der Essais so zu vermitteln, dass sich die Leserinnen und Leser nicht eingeschüchtert oder abgestoßen, sondern zur Nachahmung eingeladen und aufgefordert fühlen. 

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Ausschnitt aus der Decke der Turmbibliothek, 2. Etage: Drei lateinische Bibelzitate, im Auftrag Montaignes in die Querbalken gebrannt © Wikimedia Commons

Den verschlungenen Lebenswegen bedeutender Persönlichkeiten zu folgen und sie festzuhalten, ist das Metier des Historikers Volker Reinhardt. Er lehrt seit 1992 als Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg in der Schweiz. Er ist Experte für die italienische Renaissance und die Geschichte des Papsttums. Er hat eine Reihe von Biographien verfasst, u.a. von Voltaire, Leonardo da Vinci, Luther, De Sade, Pius II. Piccolomini, Macchiavelli und Calvin; er hat über den Sacco di Roma 1527 geschrieben, über die Macht der Schönheit. Eine Kulturgeschichte Italiens und über Die Macht der Seuche. Wie die große Pest die Welt veränderte. Volker Reinhardt wurde am 3. März 2012 in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste aufgenommen. Für seine Biografie Machiavelli oder Die Kunst der Macht wurde er 2013 von der Lübecker Golo-Mann-Gesellschaft mit dem ersten „Golo-Mann-Preis für Geschichtsschreibung“ ausgezeichnet. 

„Das Ziel dieser Biographie ist es, Montaigne als Kind seiner Zeit und in seiner ganzen Geschichtlichkeit zu beleuchten: Montaigne, unseren Bruder im Geiste; Montaigne, den kunstvollen Fälscher seiner Biographie; Montaigne, den Skeptiker; Montaigne, den Plauderer; Montaigne, den Vermittler; Montaigne, den Mahner; Montaigne, den Gegendenker – und als Summe des Ganzen einen Montaigne, der zwischen Zweifeln und Verzweiflung, Hoffnung und Enttäuschung nach Auswegen aus einer scheinbar ausweglosen Krise sucht“ (S. 18). 

Neben den Essais dient ihm sein berühmtes Reisetagebuch als Quelle. Zwischen Juni 1580 und November 1581 war Montaigne unterwegs, eine Art Grand Tour durch Süddeutschland, die Schweiz, Österreich, Italien und zurück nach Bordeaux, wo man ihn in Abwesenheit zum Bürgermeister gewählt hatte. Eigentliches Ziel der Reise, die er offiziell aus gesundheitlichen Gründen (Nierensteine, Heilbäder) angetreten hatte, war Rom, wo er auch mehrere Monate blieb. Das neue Buch von Volker Reinhardt hat mich motiviert, sein Tagebuch einer Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland, detebe-Klassiker 23675, Zürich 2007, zu lesen, mit dem Hintergrundwissen, das Volker Reinhardt ausgebreitet hat. Ebenso habe ich mir die Essays vorgenommen, die Ausgabe von Herbert Lüthy stammt noch aus dem ersten Jahr meiner Studienzeit, die opulente Ausgabe (Die andere Bibliothek, 1998) in der ersten modernen Gesamtübersetzung von Hans Stilett fand ich im Bücherregal wieder. Damit war es noch nicht genug mit Montaigne. Erst kürzlich erschien (bei Galiani Berlin 2022) das Buch von Gaspard Koenig, Mit Montaigne auf Reisen. Abenteuer eines Philosophen zu Pferde, das ich regelrecht verschlungen habe, wegen seiner Reiseerfahrungen mit dem antiquierten Verkehrsmittel Pferd im 21. Jahrhundert, wegen der vielen Anspielungen auf Montaigne und seiner landeskundlichen und historischen Beobachtungen.

03 Italienreise

Italienreise von Michel de Montaigne von 1580 bis 1581 © Wikimedia Commons

Heutige Schülerinnen und Schüler (nicht weniger Lehrkräfte) mag Montaigne beeindrucken, weil er fließend und fast wie ein Muttersprachler Latein sprach (er lästert über den Pfarrer von Sterzing, weil mit diesem die Kommunikation auf Latein nicht klappte).  „'Die Methode, die mein Vater fand, bestand darin, dass er mich als Säugling und vor meinen ersten Sätzen einem Deutschen zur Erziehung übergab, der später ein sehr bekannter Arzt in Frankreich wurde, zu diesem Zeitpunkt aber kein Wort Französisch konnte, das Lateinische jedoch umso besser beherrschte' (40, E I, 26). Montaignes Primärsprache war demnach das Lateinische, denn auch die Eltern, ja selbst die Dienstboten hatten sich an die eiserne Regel zu halten, mit dem kleinen Michel nur klassische Konversation zu pflegen. Die Folge: 'So aber latinisierten wir uns allesamt, und zwar so sehr, dass das Lateinische bis in unsere Dörfer in der Umgebung überschwappte, so sich bis heute einige lateinische Bezeichnungen für Handwerker und Werkzeuge erhalten haben' (E I 26).

04 Postkurse 1563

Postkurse von 1563 zum Vergleich mit der Reiseroute von Montaigne 1577 Europäische Postkurse 1563 nach dem Reisebuch des Giovanni da L’Herba, Skizze, mit handschriftlicher Korrektur bei Cannstadt, möglicherweise von einem Archivar des Thurn-und-Taxis-Archivs Regensburg © Wikimedia Commons

Diese Spracherziehung hatte für den Zögling weitreichende Konsequenzen: 'Was mich betrifft, so war ich älter als sechs Jahre, bevor ich vom Französischen oder unserem heimischen Périgord-Dialekt mehr verstand als vom Arabischen' (Essays I, 26). So war der Knabe ein Fremdling im eigenen Land. Allerdings hatte diese seltsame Akkulturation auch ihre Vorteile: 'Ohne Studium, ohne Buch, ohne Grammatik und Lektionen, ohne Peitsche und ohne Tränen hatte ich Latein gelernt, so rein, wie mein Lehrer es konnte'“ (Essays I, 26, V. Reinhardt, S. 40). Mit seinem Vater habe er überdies 'Griechisch deklinieren' geübt nach dem Prinzip 'Fang den Fall' - einer wirft dem anderen einen Casus zu, den es dann korrekt zu variieren gilt. 

Eine erstaunliche Geschichte, findet Volker Reinhardt, aber stimmt sie auch? Er entdeckt im Text selbst eine Reihe von Widersprüchen: Nach Montaignes Schilderung war sein Vater, der tapfere Soldat und liebevolle Erzieher, ein Ausbund an menschlichen Qualitäten, doch klassische Bildung war ihm nie zuteil geworden. Jetzt aber sollte er als Lehrer einer Sprache brillieren, die nach Montaignes eigenen Worten so viele Schüler zur Verzweiflung trieb? Noch unwahrscheinlicher klingt die Behauptung, man habe mit dem Knaben Michel nur Latein gesprochen. - Zutreffend ist: Den Sprösslingen ein gewisses Maß an klassischer Bildung zukommen zu lassen, wurde um diese Zeit in aristokratischen Kreisen Mode. Reinhardt konstatiert:  „Die Schilderung der eigenen Kindheit als kühnes Erziehungsexperiment bildet einen integralen Bestandteil von Montaignes Selbstporträts. Demnach hatte Pierre Eyquem (sc. Michels Vater) die Probe aufs Exempel machen wollen: Ging aus dieser Versuchsanordnung ein neuer, höherer Mensch hervor, der es in Sachen Tugend und Edelmut mit den Großen des Altertums aufnehmen konnte? Das musste die Neugier des Lesers wecken, der das Ergebnis in den Essais nachlesen konnte. Warum sollte man sonst die umfangreichen Reflexionen und Selbstbeobachtungen eines 1580 noch ziemlich unbekannten Landadeligen aus der Guyenne kaufen und lesen? Die stark überspitzte Kindheitserzählung gehört zu den Anlockungs- und Überzeugungsstrategien des Autors Montaigne. Er spricht als Adeliger zu Adeligen, macht aber zugleich deutlich, dass er ungewöhnliche Erfahrungen und Erkenntnisse mitzuteilen hat, die irritierend, vielleicht sogar verstörend wirken könnten. Konformität und Exzentrizität mussten sich in dieser Selbstdarstellung die Waage halten, sonst wurden die damit verbundenen Botschaften nicht angenommen“ (43). 

Der Person Michael de Montaigne kann man sich von verschiedenen Seiten nähern, kulinarisch in Schloss und Park Montaigne mit einer Dégustation gratuite de vins du domaine und ein paar Flaschen Les Essays von 2006 oder 2019, man kann sich in Montaignes Schriften vertiefen oder man kann mit Volker Reinhardts Biographie über Montaigne mit kritischem Spürsinn mit einem begnadeten Fälscher, einem virtuosen Irreführer seines Publikums befassen, denn vieles ist nachweislich verkehrt, manches kann so kaum stimmen, und nicht weniges ist zumindest teilweise ganz anders, als es dargestellt wird. Der Grund: Um erfolgreich gegen Fanatismus und Grausamkeit anschreiben zu können, musste er in der Öffentlichkeit als Aristokrat anerkannt werden, sonst durfte er mangels Status nicht auf Gehör hoffen. Zu diesem Zweck musste er die Ursprünge seiner Familie schönen und seine Tätigkeit als Mitglied des parlement, des obersten Gerichtshofs von Bordeaux, verschweigen, denn die darin vertretenen Neu-Adeligen wurden von der alten Elite nicht ernst genommen. Trotzdem präsentiert Montaigne sein Werk seinem Lesepublikum als 'ein Buch guten Glaubens'. Passt das zusammen? Lesen Sie selbst!


Cover Brodersen Wind und WetterTheophrast, Wind und Wetter, Griechisch – deutsch, übersetzt und herausgegeben von Kai Brodersen, Sammlung Tusculum De Gruyter Berlin – Boston 2023, 240 Seiten, ISBN: 9783110744033, 39,95 €


Zum Thema Wind und Wetter fällt mir eine Geschichte ein, die mich im Grundschulalter schwer beeindruckt hat. Mein Onkel hatte einen kleinen Bauernhof und mein Vater, mein kleinerer Bruder und ich halfen (so gut es bei Kindern eben ging) regelmäßig im Sommer bei der Heu- und Getreideernte. Frühzeitig war uns klar, dass auf einem Bauernhof das richtige Wetter eine entscheidende Rolle spielt. Deshalb fand jene Geschichte, die wir im Grundschulunterricht 'durchgenommen' haben, dass da ein Mann sich ausbedingen konnte, für einige Zeit das Wetter zu machen, und das anscheinend auch erfolgreich tat, mein starkes Interesse. Die Erzählung habe ich kürzlich im Internet wiedergefunden mit weiteren  Details: sie stammt aus einem Buch von 1854 mit dem Titel Märchen für die Jugend (https://de.wikisource.org/wiki/Den_Wind_vergessen). 

Der Wettermacher handelte – nach meinem damaligen Empfinden – grundrichtig, alles wuchs und blühte, „daß es eine Lust war und der Mann ging daher gar stolz umher und that als wäre er der liebe Gott. Da aber die Zeit der Ernte kam, fuhr er wohl große Wagen voll auf seinen Hof, aber nichts als Stroh und kein Körnlein Frucht: denn der überkluge Mann hatte den Wind vergessen“.  Es zeigte sich, dass der Wind nicht nur kalte oder heiße Luft ist, sondern viel viel mehr. Wikipedia erzählt uns heute – wenn man denn danach googelt: „Alle fremdbestäubenden Getreidearten sind Windbestäuber, deren Bestäubung am besten bei trockenem Wetter mit ausreichendem Wind gelingt. Im Notfall kann mit Windmaschinen, Hubschraubern oder Drohnen unterstützend nachgeholfen werden. Der Begriff Bestäubung wird meistens mit Imkerei und Insekten in Verbindung gebracht“. 

Üblicherweise ist der Wind - dem man dann sogar einen eigenen Namen gibt - kalt, wie der Böhmische Wind, ein eisiger Nordost, der zu meinen Schulzeiten von Böhmen kommend durch die Further Senke weht und die gefühlte Temperatur um lockere zehn  Grad reduziert.  Oder er ist stark wie jener Wind, der durch die Provence von Nord nach Süd jagt und uns Studenten auf einem Zeltplatz nahe Carpentras regelmäßig nachts, wenn die Zeltplanen kurz davor waren, zu zerreissen, den radikalen Entschluss fassen ließ, gleich am nächsten Morgen abzureisen. Bei strahlender Morgensonne und bezaubernder Landschaft waren dann tagsdarauf die nächtlichen Pläne vergessen.

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Turm der Winde, Athen (Foto von Annike Rabl)

Aristoteles hat die Namen von Winden und ihre Besonderheiten aufgezeichnet, etwa den Borras, Kaikias, Apeliotes, Euros, Orthonotos, Leukonotos, Lips, Iapxy, Thrakias und Arpaktias. Die Beobachtung von Wetter und Klima war im antiken Griechenland insbesondere für die Landwirtschaft und die Seefahrt von großer Bedeutung. Eine naturkundliche Erklärung und möglichst auch Vorhersage von Wind und Wetter waren daher seit alters Gegenstand von Sprichwörtern und von  Überlegungen vorsokratischer Denker wie Anaximandros von Milet. Sie fanden eine zusammenfassende Darstellung aber erst in drei Kapiteln der 'Meteorologika' (2,4-6) des Aristoteles. Dessen Schüler und Nachfolger als Leiter der Philosophenschule des Peripatos, Theophrastos von Eresos (etwa 371-287), verfasste eine eigenständige Schrift 'Über Winde'. In deren Umfeld erschienen dann weitere Schriften zu Wind und Wetter. Die Kenntnis eines Teils von Theophrasts verlorenen Meteorologika verdanken wir einer syrischen und arabischen Version, auch diese befindet sich in der von Kai Brodersen zusammengestellten Tusculum-Ausgabe.

Jesus stillt den Sturm

Niccolò Circignani (1517–1597): Jesus stillt den Sturm, Fresko 1579, Sala della Meridiana im Turm der Winde (Vatikanstadt) © Wikimedia Commons

Zwei unter dem Namen des Theophrast überlieferte Werke untersuchen Wind und Wetter und waren bisher nicht in deutscher Übersetzung zugänglich. 

Neben Theophrasts Schrift 'Über Winde' gehören noch einige Paralleltexte zu diesem neuen Tusculumbändchen: die 'Meteorologika' des Aristoteles, Theophrasts Über Zeichen für Regen, Winde, Stürme und schönes Wetter, die anonyme Zusammenstellung Lagen und Namen der Winde und die aus der peripatetischen Schule unter dem Namen des Aristoteles als Problemata tradierten Lehrbücher, die in Frage und Antwortform naturkundliches Wissen zusammenstellen und in Kapitel 26 die Winde behandeln. Als Beigabe fungiert der Auszug über Theophrastos bei Diogenes Laertios, Leben der Philosophen, 5,36-57.  Dort sind die Bücher aufgelistet, die der „sehr fleißige" (5,36) Autor geschrieben hat: 232850 Zeilen (5,50).

Die Schrift über die Winde behandelt die Winde, ihre Ursachen und ihre Wirkungen auf Natur und Mensch, die Schrift über Wetterzeichen diskutiert die Möglichkeiten der Wettervorhersage anhand von Signalen, die sich in der Natur und bei Tieren beobachten lassen. Gegenstand der Überlegungen sind aber auch die Wirkungen des Klimas auf den Menschen – und des Menschen auf das Klima. „Die Zeichen für Regen scheinen folgende zu sein. Am stärksten ist das Auftreten in der Morgendämmerung, wenn der Himmel vor Sonnenaufgang ein rötliches Aussehen hat. Dies deutet ja gewöhnlich auf Regen innerhalb von drei Tagen hin, wenn nicht sogar am selben Tag. Andere Zeichen deuten in die gleihe Richtung. So deutet ein roter Himmel bei Sonnenuntergang auf Regen innerhalb von drei Tagen hin, wenn nicht vorher, wenn auch weniger sicher als ein roter Himmel bei Sonnenaufgang“ (S. 109, Über Zeichen I 10).

„Es ist ein Zeichen von Regen oder Sturm, wenn Vögel, die keine Wassertiere sind, ein Bad nehmen. Es ist ein Zeichen von Regen, wenn eine Kröte ein Bad nimmt, und noch mehr, wenn Frösche lautstark sind ... Es ist ein Zeichen von Regen, wenn Schwalben mit dem Bauch auf das Wasser der Seen schlagen“ (S. 111, Über Zeichen I 15).

In zweisprachiger Präsentation der Texte ist der neue Tusculum-Band von Kai Brodersen mit einer ausführlichen Einführung und mit hilfreichen Erläuterungen versehen. Er eröffnet den Zugang zu zwei Werken des bedeutenden Aristoteles-Schülers und ermöglicht damit allen am Altertum und seiner Naturforschung Interessierten, das antike Nachdenken über Wind und Wetter aus erster Hand nachzuvollziehen. Die Ausgabe bildet eine wichtige Quelle zur Umweltgeschichte und erschließt antike Naturphilosophie aus erster Hand. Ich fand es überraschend, dass die Bibliothek des Deutschen Wetterdienstes in Offenbach eine Ausgabe der Meteora des Aristoteles mit dem Kommentar des Jacobus von Amersfordia in seinen historischen Beständen auflistet, verlinkt mit der Bayerischen Staatsbibliothek.


Cover Wolfgang Will XenophonXenophon: Kleine historische und ökonomische Schriften,  übersetzt von Wolfgang Will, Griechisch-deutsch.  278 S.  De Gruyter, Berlin – Boston, ISBN 978-3-11-046995-0 2020, Sammlung Tusculum 39,95 €


Der Sokratesschüler Xenophon ist mit seinen zahlreichen Werken in der Sammlung Tusculum (über 340 Bände aus 100 Jahren) mit neun Bänden recht gut vertreten. Erhältlich sind seit Jahrzehnten Anabasis und Hellenika, Kyrupädie und die Erinnerungen an Sokrates, das Buch von der Jagd/Kynegetikos und seine Ratgeber zu Ross und Reiter / Hipparchikos u. Peri hippikes. Neu hinzugekommen sind jetzt Xenophons Kleine historische und ökonomische Schriften

Wolfgang Will hat sie als eine neue Perle in die Sammlung Tusculum eingereiht  und drei der vier Texte Xenophons erstmals (!) ins Deutsche übersetzt. Die erste und bekanntere Schrift »Die Verfassung der Lakedaimonier«, beleuchtet das Funktionieren des spartanischen Staates und bildet die wichtigste Quelle zum antiken Sparta. Ergänzt wird sie um die Biographie des Agesilaos, der Sparta in einem zentralen Zeitraum seiner Geschichte (399–359 v. Chr.) als König regierte. Mit dem Wesen und auch mit der Abschaffung der Tyrannis beschäftigt sich der Hieron, ein fiktives Gespräch zwischen dem Dichter Simonides und dem sizilischem Alleinherrscher Hieron. Die Poroi (Einkünfte) handeln schließlich von den Möglichkeiten Athens, die ärmere Bevölkerung in Friedenszeiten durch Erschließung der eigenen Ressourcen ohne Expansion zu ernähren. Sie gilt als die bedeutendste antike Schrift zu Problemen der Staatswirtschaft.  Der tschechische Ökonom Tomáš Sedláˇcek sieht dieses Werk (neben Xenophons Oikonomikos und der nur lateinisch erhaltenen Schrift de vectigalibus als die allerersten eigenständigen Lehrbücher für Mikro- und Makroökonomie (vgl. T. Sedláˇcek: Die Ökonomie von Gut und Böse. Hanser, München 2012, S. 238). 

Hieron

Charles Soillot übergibt seine französische Übersetzung von Xenophons Hieron Herzog Karl dem Kühnen von Burgund. Buchmalerei in dem um 1460 angefertigten Widmungsexemplar für den Herzog (Brüssel, Bibliothèque royale, Ms. IV 1264, fol. 1r) © Wikimedia Commons

Der emeritierte Bonner Althistoriker Wolfgang Will veröffentlichte erst kürzlich Der Zug der 10000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres (C.H.Beck 2022). Jahrzehnte  lang hat er sich speziell mit den Großen der griechischen Geschichte und Politik beschäftigt, mit Thukydides und Perikles (2003), mit Demosthenes (2013), Herodot und Thukydides (2015), Alexander (1986, 1998), den Akteuren des Peloponnesischen Krieges (2006), Athen und Sparta (2. Aufl. 2019), zuletzt eben mit Xenophon.

Xenophon ist in Athen geboren (zwischen 430 und 425 v. Chr.) und in Korinth gestorben (nach 355, vgl. Diog. Laert. 2,53–55). In Athen machte er Bekanntschaft mit Sokrates, hat aber Athen schon vor Sokrates’ Tod 399 als junger Mann  verlassen, um sich dem Feldzug des jüngeren Kyros gegen den Perserkönig ArtaxerxesII. anzuschließen. Er kehrte 394 nach Griechenland zurück, trat in Spartas Dienste, wurde aus Athen verbannt und lebte in einem Dorf auf der westlichen Peloponnes, Skillus, wo er auf seinem Landgut sorglos und in Muße neben der Landwirtschaft und Jagd seiner schriftstellerischen Tätigkeit nachgehen konnte. Nach dem Zusammenbruch der spartanischen Hegemonie 371 infolge der Niederlage gegen die Thebaner bei Leuktra mußte er Skillus verlassen und zog nach Korinth. Xenophon hat bekanntlich ein umfangreiches Œuvre hinterlassen, zu dem neben historischen Schriften zahlreiche philosophisch relevante Schriften gehören.

Zu seinem Œuvre gehören neben den bereits erwähnten Werken auch die Schrift über den Staat und die  „Verfassung der Lakedaimonier", in der er die von Lykurg geschaffene Verfassung als die ideale Ordnung betrachtete, auch wenn sie zu seiner Zeit degeneriert war. Xenophon beginnt im Erzählton:  „Als ich eines Tages darüber nachsann, dass Sparta, obgleich es doch zu den Städten mit der geringsten Anzahl an Bürgern gehört, dennoch die mächtigste und namhafteste Stadt in Griechenland geworden ist, da wunderte ich mich, wie es wohl dazu kommen konnte“ (23). Wolfgang Will erläutert in seiner ausführlichen Einleitung, dass Xenophon der Idealstaatsliteratur seiner Zeit folgt. Er beginnt mit der Kindererzeugung, der Erziehung in den unterschiedlichen Altersstufen, der spartanischen Lebensführung; im MIttelpunkt steht nach einem Kapitel über Gelderwerb der unbedingte Gehorsam gegenüber Behörden und Gesetzen; diesen Themen folgen Fragen des Heerwesens und der Kriegführung. Zwei Kapitel gelten den Königen, ihren Aufgaben und ihrer Stellung. Eingeschoben ist eine Kritik des aktuellen Sparta, das sich offenbar weit von dem eben geschilderten Ideal entfernt hat.

Der zweite Text ist die Lobschrift auf den von Xenophon verehrten Spartanerkönig 'Agesilaos', in dessen Diensten er in Kleinasien gegen die Perser und 394 in Koroneia gegen eine antispartanische Koalition gekämpft hatte, zu der auch seine Heimatstadt Athen gehörte. Xenophon entwirft in dieser Schrift das Idealbild eines Feldherrn, wofür er sich aufgrund seiner militärischen Erfahrungen kompetent gefühlt haben muss. Nicht zuletzt liefert der Agesilaos Informationen über den Autor selbst, über sein eigenes Selbstverständnis und seinen politischen Standort.

Der 'Hieron', der Form nach ein sokratischer Dialog zwischen dem syrakusischen Tyrannen Hieron und dem Dichter Simonides, befaßt sich mit dem Problem, wie eine Tyrannis in eine gerechte Monarchie umgewandelt werden kann. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Leben des Tyrannen, das in jeder Hinsicht als unglücklich erscheint, und weiteren Tyrannentopoi, die jeder Athener kannte. Im zweiten Teil fragt er, wie die Gewaltherrschaft eines Tyrannen in eine gerechte Herrschaft umgewandelt werden kann, ohne dass dieser durch eine Rebellion von innen oder einen Angriff von außen gestürzt wird.

Weiter zeigte Xenophon Interesse für die Fachwissenschaften und beschäftigte sich etwa im Traktat 'Poroi' (und im sokratischen Dialog 'Oikonomikos') mit wirtschaftlichen Fragen. Xenophon verbindet dabei technische Hinweise für ein profitorientiertes Vorgehen in Oikos und Polis mit Ausführungen über die Person des geeigneten Oikonomos bzw. Politikers. Das Interesse für die Frage, was eine gute Führungspersönlichkeit ausmacht, verbindet die ökonomischen Schriften mit Xenophons anderen Werken. Den Titel des Werkes Πόροι ἢ Περὶ προσόδων (Πόροι wurde in klassischer Zeit im Zusammenhang mit der Verwendung staatlicher Gelder benutzt) kann man passend mit Mittel und Wege, dem Staat Geld zu verschaffen oder Über die Einkünfte übersetzen.

Xenophons Ziel ist es, zu zeigen, wie Athen auf friedlichem Wege seine Ressourcen nutzen und sowohl die verarmten Bevölkerungsschichten unterstützen als auch Wohlstand für die Stadt und damit größere Investitionen im kulturellen Bereich erreichen könne. Die Grundlage sieht er in den natürlichen Voraussetzungen Attikas, dem milden Klima und dem Reichtum an Bodenschätzen, gegeben (Kap. 1). Seine Reformvorschläge betreffen die Behandlung der Metöken, eine verbesserte Infrastruktur, soziale Maßnahmen und einen Eingriff in das Wirtschaftsleben, die alle eine größere Attraktivität Athens und ein steigendes Ansehen der Stadt unter den Griechen bewirken:  Auf diese Weise werde Athen prosperieren und kulturell erblühen (Kap. 5–6). Die Poroi bieten wirtschaftshistorisch interessante Details.  Ob die von Xenophon unterbreiteten Vorschläge realistisch sind und inwieweit sie tatsächlich die athenische Politik, etwa bei den Reformen des Politikers Eubulos, beeinflußten, ist eine in der Forschung bereits seit längerer Zeit diskutierte Frage.

Xenophon kommt zum Schluss der Poroi auf eine noch heute zentrale Frage:  „wenn aber wiederum einer der Meinung sei, für die Finanzen der Stadt sei Krieg einträglicher als Frieden, dann weiß ich nicht, wie einer das besser beurteilen kann, als wenn er genauer untersucht, welchen Ausgang die früheren Ereignisse für die Stadt nahmen. Er wird nämlich herausfinden, dass früher im Frieden sehr viel Geld in die Stadt hereinkam, im Krieg aber dies alles ausgegeben wurde; bei genauer Beobachtung lässt sich erkennen, dass auch in der heutigen Zeit wegen des Krieges viele Einkünfte ausblieben und die, die eingingen, für viele und mannigfaltige Zwecke verbraucht wurden, aber sich die Einkünfte, seit Frieden auf dem Meer herrscht, vermehrt haben und es den Bürgern möglich ist, sie nach Wunsch zu verwenden. Wenn mich aber weiter einer fragen sollte: 'Bist du der Meinung, wir müssen mit jemandem Frieden halten, selbst wenn er der Stadt Unrecht tut?' würde ich das verneinen. Ich sage vielmehr, wir können sie viel schneller strafen, wenn wir nicht (selbst) damit begännen, jemandem Unrecht zuzufügen; sie hätten dann nämlich niemanden als Bundesgenossen“ (241ff).

Dieses Tusculum-Bändchen zeigt in seiner Ausstattung den im Umgang mit der Leserschaft erfahrenen Praktiker. Am Anfang steht eine Einführung mit einer Einordnung der Texte in Xenophons Werk (die Verfassung der Lakedaimonier gilt als wichtigste Quelle zum antiken Sparta). Neben einer flüssigen und gut lesbaren Übersetzung findet man vor jedem der vier Texte eine größere spezielle Einleitung, dazu Erläuterungen zu den Texten, ein Glossar, eine Chronologie, zahlreiche Literaturhinweise und ein Verzeichnis der Eigennamen.


Cover Mischa Meier ChristenverfolgungMischa Meier, Die neronische Christenverfolgung und ihre Kontexte, Reihe: Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Band 62, Verlag Winter Heidelberg, 2021, 73 Seiten, ISBN 978-3-8253-4805-2, 22,00 €


Kürzlich stand ich beim Einkaufen plötzlich vor einer Palette mit Holzkohle, 100 % nachhaltig, 0 % Regenwald und natürlich Bio, wie das heute so sein muss. Ein Schmunzeln entlockte mir dann, was darüber hinaus mit großen Lettern dreizeilig vermerkt war: Nero Grillkohle Special Edition, darüber ein Konterfei Neros mit unvermeidlichem Lorbeerkranz und gekreuztem Grillbesteck. Damals hatte ich das sehr dicht geschriebene 70 Seiten Bändchen von Mischa Meier schon gelesen, was mich als Lehrer, der gerne mit Karikaturen im Unterricht gearbeitet hat, in der Überzeugung bestärkte: Solch ein Sack Holzkohle reicht als Movens für eine ganze Latein- oder Geschichtsstunde, nicht weniger für eine anspruchsvolle Interpretationsaufgabe beim Abitur verknüpft mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der einschlägigen Passage in den Annalen des Tacitus. Vorausgesetzt man kennt sich aus in der hochkomplexen und medial vielfach  überzeichneten Materie. Da Seneca und Nero überdies visuell durch den neuen Film von Robert Schwentke  überall präsent sind und, wer Zeitung liest, auf das 550 Seiten-Buch von Alexander Bätz (Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2023) und eine Reihe anderer Buchtitel stößt, sollte ein Sack mit Bio Holzkohle seine Liebhaber und Käufer, die sich auf der Höhe der Zeit wähnen, wohl finden.

Anders als es die Junktur von Grillkohle und Nero andeuten mag (es sei denn, hier sind Spaßvögel am Werk), ist es nicht einfach, hinter dem Bild, das die Geschichtsschreibung gezeichnet, die Filmindustrie akzentuiert hat und die Medien (selbst unter 'Nero für Kinder' wird man fündig) bis hin zur Tourismusindustrie immer neu bedienen, den historischen Nero zu entdecken. Vielleicht unmöglich. (Vgl. Volker Schönenberger, Zum 100. Geburtstag von Peter Ustinov: Quo Vadis – Kaiser Nero, die Christen und der Brand Roms,  https://dienachtderlebendentexte.wordpress.com/2021/04/16/quo-vadis/: „Das Epos bietet massig Gelegenheit, historische Ungenauigkeiten zu finden. Das kann auch interessant sein, ist aber sekundär. Hier geht es vordergründig erst einmal um Schauwerte, und die sind gewaltig, sei es beim Großen Brand Roms oder bei der anschließenden Verfolgung und Bestrafung der Christen, denen Nero die Schuld an der Katastrophe in die Schuhe schieben lässt“). Die antiken Quellen selbst (zur Quellenlage vgl.  https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Brand_Roms) zeichnen kein falsches, aber ein tendenziöses Bild von Neros Persönlichkeit. Tacitus, Sueton und Cassius Dio geben den Blick der römischen Führungsschichten wieder. Ausgehend von jüngsten Thesen in der Forschungsliteratur (etwa der These von Brent Shaw, es habe unter Nero überhaupt keine Christenverfolgung gegeben, 10ff.) diskutiert die vorliegende Studie die Problematik der neronischen Christenverfolgung im Jahr 64 und versucht sie präziser als bisher in ihre historischen Kontexte einzuordnen. Mischa Meier, Professor für Alte Geschichte an der Universität Tübingen (und wenn man hier daran erinnern darf,  in jugendlichen Zeiten 1996 Verfasser des Scherzartikels „Apopudobalia“ in der ersten Auflage des Neuen Pauly, also ausgestattet mit einem Sinn für Anachronismen), stellt fest, dass den Römern der Begriff 'Chrestiani' in den 60-er Jahren des 1. Jhs. noch nicht bekannt war, anders als zu Zeiten des Tacitus gut 50 Jahre später. Unter Neros Vorgänger Claudius war es zu Unruhen innerhalb jüdischer Gemeinden und römischen Gegenmaßnahmen in den Jahren 41 und 49 gekommen, wofür man offensichtlich eine neue Gruppe, Anhänger eines gewissen Chrestus, verantwortlich gemacht hatte. Wie Claudius ging dann auch Nero gegen Unruhestifter vor in der Annahme, es handle sich um eine jüdische Splittergruppe, über einen eigenen Christenbegriff verfügte er nicht: also keine 'Christenverfolgung' unter Nero (30f.).

01 kartoffelsack

Im folgenden Abschnitt geht es Mischa Meier um den Konnex zwischen dem Brand Roms und der anschließenden Verfolgung, wie er in der herkömmlichen Geschichtsdarstellung  im Anschluß an Tacitus stark präsent ist. Dies erweist sich als Konstrukt des Tacitus, denn sämtliche anderen Quellen christlicher wie heidnischer Provenienz kennen diesen Zusammenhang nicht. Die meisten Experten sind sich einig, das Feuer sei wohl zufällig ausgebrochen. Nero selbst soll zu diesem Zeitpunkt gar nicht in Rom gewesen sein, aber sei sofort zurückgekehrt und habe bei den Löscharbeiten geholfen, als er von dem Unglück erfuhr.  „Selbst überzeugte antichristliche Polemiker wie Kelsos haben den Christen eines jedenfalls nicht unterstellt: die Brandstiftung im Rom“ (38). „Ein Konnex zwischen dem Brand der Urbs und Neros antichristlichen Maßnahmen bleibt somit fraglich, ja insgesamt höchst unwahrscheinlich: allem Anschein handelt es sich dabei um ein Konstrukt des Tacitus, das den Vorwurf, der Kaiser habe die Stadt angezündet, aufgreifen sollte, um das dadurch bereits finster eingefärbte Nerobild noch zusätzlich zu verdüstern. Der Vorwurf der Brandstiftung freilich ist allein im senatorischen Umfeld bezeugt. Unter den Zeitgenossen wird Lukan mit ihm in Verbindung gebracht und auch Seneca könnte darauf angespielt haben, der ältere Plinius erwähnt Neros vermeintliche Brandstiftung explizit, zudem ist die Behauptung in der Tragödie Octavia präsent. ... Verfestigte sich somit in aristokratischen Kreisen rasch die Vorstellung von incendiarius Nero, so scheint die breite Bevölkerungsmehrheit durchaus eine andere Sichtweise vertreten zu haben: Selbst Tacitus muss nämlich zugeben, dass Neros erste Sofortmaßnahmen gegen das Feuer als popularia wahrgenommen wurden“ (41). Tacitus ging es in seiner Darstellung offensichtlich um die Propagierung eines möglichst negativen Bildes des Kaisers Nero, vor allem um die Betonung der saevitia principis, die eine Verknüpfung von Brand und Verfolgung von der historiographischen Konzeption her nahelegte.

Da ein Zusammenhang zwischen dem Brand Roms und der Christenverfolgung ausgeschlossen werden kann, geht der Verfasser im Kapitel IV den Motiven für Neros Vorgehen nach und untersucht insbesondere die Symbolik und politische Bedeutung der von diesem angewandten Hinrichtungsarten für die Christen. Das sind nun freilich ebenso diffizile wie interessante Argumentationsstränge, die zu meinen Studentenzeiten in Veranstaltungen zur Alten Geschichte und Kirchengeschichte keinerlei Aufmerksamkeit gefunden haben. Es geht dabei um „mythologisierende Hinrichtungsarten“, die Tassilo Schmidt 2012 ins Gespräch brachte und von denen Kathleen M. Coleman 1990 gezeigt hatte, dass sie vor Nero nicht belegt sind. Tacitus spricht von quaesitissimis poenis, für die Nero eigens seine Gärten zur Verfügung stellte. Nero zielte also auf ein Spektakel und Tacitus auf die Herausarbeitung von dessen bestialischer Grausamkeit. „In den Christenverfolgungen bespiegelte Nero sich selbst und sein eigenes Handeln vor großem Publikum, die Christenverfolgungen stellten somit eine weitere Facette des neronischen Künstlertums dar“ (56).04 Siemiradzki Christian Dirce

Henryk Siemiradzki: Eine christliche Dirke. (sc. Dirke, Gattin des gewalttätigen Königs Lykos von Theben. Clemens von Rom berichtet, dass Christinnen an die Hörner von Stieren gefesselt den Märtyrertod erlitten. Einen Zusammenhang mit dem Großen Brand Roms 64 n. Chr. erwähnt allerdings auch er nicht.) 263 cm x 530 cm, Nationalmuseum Warschau © Wikimedia Commons

Das Kapitel V (63-66) bietet eine stringente Zusammenfassung der Argumentation, das umfangreiche Literaturverzeichnis (67-73) gibt einen  Überblick über die wesentlichen Vorarbeiten, auf die sich Mischa Meier stützt. Das berühmte Kapitel aus Tacitus' Annalen, das mitunter im anspruchvollen Lateinunterricht gelesen oder auch in deutscher Übersetzung rezipiert wird, erscheint nach der Lektüre dieser Studie, in der ein namhafter Historiker wie Mischa Meier alle Register seiner Fachkompetenzen zieht, Positionen verwirft und seine Sicht der Dinge begründet, in einem völlig neuen Licht. „Tacitus ging es in seinem Christenkapitel somit nicht um die Christen, sondern um Nero. Nero wiederum ging es bei den Maßnahmen ebenfalls nicht um die Christen, sondern um sich selbst. ... Indem Nero die Christen wegen ihres odium humani generis (und nicht wegen Brandstiftung!) zu Tode martern ließ, konnte er sich, wie Tassilo Schmidt zu Recht herausgearbeitet hat (Des Kaisers Inszenierung. Mythologie und neronische Christenverfolgung, ZAC 16, 2012, 487-515), als vollendeter Philanthrop inszenieren und damit eine zentrale Herrschertugend zelebrieren“ (65). Die Martern und Exekutionen der Christen sollten bei den Zuschauern bestimmte Mythen evozieren, es handelte sich dabei um weit mehr als eine reine Inszenierung, „vielmehr erfolgte eine Transzendierung von Realität und Mythos - ganz analog zu den kaiserlichen Bühnenauftritten“ (66). Für Nero verschmolzen zunehmend Realität und Mythos und er sah sich selbst als Akteur in einem mythischen Handlungsrahmen.